Nachdem Jesus von den jüdischen Führern festgenommen worden war, wurde er vom römischen Statthalter Pilatus verhört. (Nikolaj Nikolajewitsch Ge: »Was ist Wahrheit?« 1890, Öl auf Leinwand, Moskau, Tretjakow–Galerie.)
Eine Osterbotschaft von Andi Bachmann-Roth
Egal, ob ich mich in der Weltpolitik oder im privaten Umfeld umsehe: Rechtsstaatlichkeit und Wahrheit werden vermehrt mit Füssen getreten. Stattdessen setzt man wieder zunehmend auf das Recht des Stärkeren. Die von Russland überfallene Ukraine wird zum Spielball zweier Weltmächte, in Teilen des Westens werden die israelischen Opfer des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober 2023 verachtet, ein Vergewaltiger wird vor Gericht aus Mangel an Beweisen freigesprochen und beim Erben werden die Töchter übergangen. Zurück bleiben Menschen und Völker – vergessen und verraten. Natürlich gibt es auch Hoffnungsgeschichten. Doch ein nüchterner Blick zeigt viele, die auf der Strecke bleiben.
Justizskandal
Auf tiefgründige Art und Weise erzählt Johannes das Drama um die Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung von Jesus (Kapitel 18 und 19). Der Blick auf die sozialen Geschehnisse zwischen dem Abend des Gründonnerstags und dem Morgen des Karfreitags vor ca. 2000 Jahren ist aktueller denn je. Denn es ist auch die Geschichte von Verrat und Machtkalkül auf Kosten der Opfer. Ein Unschuldiger wird zum Tod verurteilt und die Wahrheit der Macht geopfert. Ein Drama, das viele, die Unrecht erleiden, nur allzu gut aus eigener Erfahrung kennen.
Was aber bis heute gleichermassen irritiert und beeindruckt, ist der Angeklagte, der weder auf schwächliche Nachgiebigkeit noch rücksichtsloses Ausspielen seiner Macht, sondern auf eine sanfte Stärke setzt. Doch bevor wir uns diesem bemerkenswerten Mann widmen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die anderen Protagonisten.
Machtspiele auf dem Rücken der Opfer
Da sind einerseits die jüdischen Anführer und ihnen gegenüber der römische Statthalter Pilatus. Als persönlich beauftragter Beamter des Kaisers hatte Pilatus die undankbare und gefährliche Aufgabe, die Interessen Roms in dieser aufwieglerischen Provinz zu sichern. Und er tat das mit dem ihm anvertrauten Monopol der Gewalt. Das Recht, ein Todesurteil zu verhängen, oblag allein ihm – und er machte davon regen Gebrauch (vgl. Holland 2021: 87). Er schreckte nicht einmal davor zurück, im Heiligtum der Juden ein Massaker zu vollstrecken (vgl. Lk 13,1). Das Letzte, was Pilatus brauchen konnte, waren von messianischen Hoffnungen angefachte Unruhen (vgl. Ratzinger 2011:191). Zu wackelig war sein eigener Posten im von Verrat und Intrigen durchsetzten römischen Machtapparat. Egal, ob man den römischen Prokurator eher als fairen, aber schwachen Richter oder als gerissenen Manipulator sieht, sein Ziel war in jedem Fall, seine eigene Macht zu behaupten (vgl. Volf 2012:365). Um seine Herrschaft und die Herrschaft Roms nicht zu gefährden, opferte er diesen wundersamen Wanderprediger aus Nazareth. Die Frage nach Gerechtigkeit und Wahrheit war dabei zweitrangig.

(Meister des Evangeliars von Rossano: Codex Purpureus, Szene: Das Urteil des Pilatius; 6. Jh., Pergament. Rossano, Kathedrale. Buchmalerei, wahrscheinlich in Antiochia entstanden.)
Dieselbe kühle Logik der «Nützlichkeit» von Jesu Tod vertraten auch die religiösen Führer der Juden (vgl. Joh 18,14). Nicht ihrem Machterhalt sollte der Tod Jesu dienen, sondern damit die «Nation nicht umkomme» (Joh 11,50). Eine Wahrheit über den stellvertretenden Tod Jesu, die später trotz allem zynischen Kalkül zur tiefen Wahrheit wird: «…wir haben erkannt, dass einer für alle gestorben ist…» (2. Kor 5,14). Vordergründig gaben sich die Priester, Ältesten und Schriftgelehrten des Hohen Rates als Beschützer des Volkes und ehrenhafte Verteidiger des jüdischen Glaubens aus (vgl. z.B. Joh 5,16). Doch Johannes offenbart uns, dass sie sich angesichts der Anziehungskraft Jesu schlicht um ihre Popularität fürchteten (vgl. Joh 11,48). So oder so war ihre Meinung gemacht – Jesus musste sterben. Ihre Auftritte vor Pilatus zeichnen sich durch die Abwesenheit von Argumenten (vgl. Joh 18,30) und dafür umso lautstarker vorgetragene Forderungen aus (vgl. Joh 19,6). Sie erkannten dabei nicht einmal ihren offensichtlichen Widerspruch zwischen der korrekten Einhaltung der Reinheitsvorschriften und der eigentlichen, inneren Reinheit des Menschen (vgl. Joh 18,28f), wie Ratzinger bemerkt (vgl. Ratzinger 2011:207). Um ihr Ziel zu erreichen, lieferten sie jemanden aus ihrem eigenen Volk dem verhassten Regime aus. Als sie mit ihren Forderungen nicht durchdrangen, griffen sie zur Einschüchterungstaktik: «Willst Du deine Freundschaft mit dem Kaiser aufs Spiel setzen?», fragten sie Pilatus (Joh 19,12).
Umgekehrt brachte Pilatus die jüdischen Führer dazu, öffentlich ihre Treue zum Kaiser als einzigen König zu bekunden (vgl. Joh 19,15). Und Pilatus hatte vorerst nicht im Traum vor, auf die unbegründeten Forderungen einzugehen. Schliesslich hatte er noch einige unbeglichene Rechnungen mit dem Hohepriester Kaiphas offen (vgl. Spieker 2020: 475f). Doch letztlich überwog der Druck der Meute.
Bei diesem wohl bekanntesten Gerichtsfall der Welt ging es nicht um die Klärung einer Schuldfrage, sondern um einen Kampf zwischen Machtmenschen. Kommunikation wird zu einem Werkzeug der Manipulation und Gewalt und ist nicht länger Instrument eines vernünftigen Meinungsaustausches (vgl. Volf 2012: 357). Unweigerlich denkt man dabei an aktuelle politische Auseinandersetzungen. Menschen, ja ganze Völker werden für scheinbar höhere Interessen oder den eigenen Machterhalt geopfert. Wahrheit interessiert dabei weder die Ankläger noch die Richter und wird irrelevant. In einem philosophischen Gespräch ist die Wahrheitsfrage vielleicht Geschmacksache. Für einen zu Unrecht Angeklagten ist Wahrheit jedoch eine Frage von Leben und Tod. Und auch der aggressive Umgangston in Kommentarspalten gleicht häufig einem Machtdiskurs, in welchem sich allzu häufig der laut schreiende Mob durchsetzt (vgl. Joh 18,40; 19,6).

(Tizian: Dornenkrönung; um 1570, Öl auf Leinwand, München, Alte Pinakothek.)
Sanfte Kraft
Ostern eröffnet uns einen Blick in den Abgrund menschlicher Fähigkeit zu Unrecht, Gewalt und Verrat. Und ich frage mich mit König Théoden aus «Herr der Ringe»: «Was können Männer gegen solch rücksichtslosen Hass tun?»
Da ist einerseits der Weg, den Petrus zunächst einschlägt: Er zieht das Schwert (vgl. Joh 18,10). Dem Unrecht wird Zorn und Gewalt entgegengesetzt. Es ist der Pfad der Widerstandskämpfer und Zeloten – der Stoff, aus dem Action-Filme gemacht werden. Ist der Kampf nicht legitim, wenn er sich gegen derartiges Unrecht richtet? Christus widersteht dem Drang nach Rache. Die zwölf Legionen Engel bleiben in der Kaserne (vgl. Mt 26,53). Christus lässt sich auf die Schlachtbank führen.
Friedrich Nietzsche war abgestossen von der Passion Christi. Wie Pilatus hatte er nur Verachtung und Hohn für den «kleinen Juden» aus Galiläa übrig (vgl. Nietzsche 1956: 278.174). Die johanneische Erzählung lässt jedoch nicht zu, Jesus als schwächlich und nachgiebig zu bezeichnen. Mit seinen Fragen und seinem Schweigen konfrontierte Jesus die Ankläger und Richter auf subtile und kraftvolle Art und Weise mit der Wahrheit (vgl. z.B.: Joh 18,23.37). Volf bemerkt zu Recht, dass in den beiden Kapiteln des Johannes-Evangeliums eine Art Gegenprozess stattfindet, in dem über Pilatus das Urteil gefällt wird (vgl. Volf: 357). Christus verkörpert eine alternative Macht (vgl. Joh 18,36). Sein Königtum beruht nicht auf «Kampf», sondern auf dem «Zeugnis»: «Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge» (Joh 18,37b). Christus spricht sich für die Macht der Wahrheit aus. Und er ist bereit, für diese Wahrheit sein eigenes Selbst hinzugeben. Zugleich weigert er sich, die anderen für seine Wahrheit zu opfern (vgl. Volf 2012: 358ff). So entfaltet sich in der Passionsgeschichte eine Story, in welcher der erniedrigte Christus zum Träger einer kraftvollen Autorität und Herrlichkeit wird (vgl. Mt 26,64).
Der im Tessin lebende Eremit Gabriel Bunge schreibt dazu treffend:
«An dem Beispiel Christi und seiner beiden alttestamentlichen Vorbilder Moses und David lässt sich deutlich ablesen, worin das Wesen dieser ‹sanften Stärke› besteht. Weder in schwächlicher Nachgiebigkeit noch in rücksichtslosem Ausspielen der eigenen Kraft und Überlegenheit, sondern im Gegenteil in der Hingabe seiner selbst, damit der andere Leben habe.» (Bunge 2018: 99).

(Gustave Doré: Jesus Christus mit Dornenkrone; um 1866, Holzstich. Illustration für die Prachtausgabe der Bibel in fr. Sprache aus dem Verlag Tours von Alfred Mame.)
Sanfte Stärke – gefragt wie selten
Die Erfahrungen von Verrat und Unrecht mussten schon viele teilen. Inmitten einer solchen Erfahrung stark und zugleich sanft zu bleiben, erfordert Charakter. Ich kann angesichts des Unrechts auf dieser Welt gut nachvollziehen, wenn einen Zorn oder Verzweiflung überkommt. Dennoch bleibt die sanfte Stärke der Weg, den Christus uns vorgezeichnet hat, auch wenn es mir schwerfällt, ihn als Patentrezept für alle politischen Konflikte zu verstehen.
Menschen, die diesem Weg gefolgt sind, begegneten mir zuletzt in der Lektüre von Myroslaw Marynowytschs Buch «Das Universum hinter dem Stacheldraht». Marynowytsch ist ein Ukrainer, der während der zwölfjährigen Haft im russischen Gulag Christus begegnete. Er und einige seiner Mitgefangenen fanden im Glauben die Kraft, um sich nicht von Wut und Depression zerfressen zu lassen. Er schreibt über einen Mitgefangenen Oleksa Tychi:
«Er war ein Kämpfer – doch einer, der in gar keiner Weise nur um des Kampfes willen kämpft und sich von seiner inneren Aggression leiten lässt […]. In seinen Augen lag eine so erstaunliche Liebe und eine starke evangelische Ausstrahlung.» (Marynowytsch 2023: 430).
Diese Kraft und Sanftheit brauchen wir heute mehr denn je: Menschen, die sich von der Hoffnung von Ostern leiten lassen. Am Ende werden Wahrheit und Gerechtigkeit obsiegen. Die Gewalttäter und Mächtigen werden einst, wie Pilatus, zur Fussnote im Zeugnis der Gläubigen. Menschen, die mit ihrem Leben für Wahrheit und Gerechtigkeit zeugen, entfalten bereits jetzt eine Kraft, die weder Assad, Erdogan, Trump noch Putin je haben werden.
Bibliographie:
- Bunge, Gabriel (2018): Drachenwein und Engelsbrot. Die Lehre des Evagrios Pontikos von Zorn und Sanftmut. 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage. Beuron: Beuroner Kunstverlag.
- Holland, Tom (2021): Herrschaft. Die Entstehung des Westens. 4. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
- Marynowytsch, Myroslaw (2023): Das Universum hinter dem Stacheldraht. Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten. Stuttgart: ibidem Verlag (Ukrainian Voices, 43).
- Nietzsche, Friedrich (1956): The Birth of Tragedy and The Genealogy of Morals. Übers. Francis Golffing. Garten City: Doubleday.
- Ratzinger, Joseph; Benedikt XVI (2011): Jesus von Nazareth. Teil II: vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg im Breisgau: Herder.
- Spieker, Markus (2023): Jesus. Eine Weltgeschichte. 7. Auflage. Basel: Fontis Verlag.
- Volf, Miroslav (2012): Von der Ausgrenzung zur Umarmung. Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität. Marburg: Francke.