Eine Ostermeditation über den entscheidenden Schlüsselmoment im Ökosystem des Evangeliums
Ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es ein einzelnes Korn. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. (Joh 12,24)
Wie immer strömten von überall her Pilger zum Passafest nach Jerusalem. Doch in diesem Jahr war die Stimmung aufgeladen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich unter der Menge die Nachricht, dass Jesus, der wundertätige Rabbi, in die Stadt hinaufzieht. Ist dieser Jesus der versprochene König, der sie von der Herrschaft der Römer befreien wird? Mit Palmzweigen und Hosianna-Rufen wird der Messias in der Stadt empfangen (vgl. Joh 12,12-19).
Der Trubel war offenbar so gross, dass die Menschen gar nicht mehr zu Jesus durchdrangen. Und so versuchten einige Griechen über die Jünger Andreas und Philippus ein Treffen mit dem potenziellen König zu arrangieren (vgl. Joh 12,20-22).
Jesus geht gar nicht auf die Anfrage der Jünger ein. Er erzählt stattdessen eine überraschende Episode über ein Weizenkorn. Wie so häufig wählte Jesus ein Bild, das die Menschen sofort verstanden. Erde, säen, wachsen, ernten – das bestimmte den Rhythmus der Bauern, wenn sie unter der heissen Sonne des Nahen Ostens ihrer Arbeit nachgingen. Dieses kraftvolle Bild aus Johannes 12,23-26 enthüllt einen zentralen Wesenskern des Evangeliums. Und es gibt uns entscheidende Hinweise auf die Frage, die uns als SEA im Jahr 2024 ganz besonders beschäftigt: Wie können wir Ökosysteme des Evangeliums gestalten und beleben? Wie können wir Beziehungen und Wechselwirkungen im Miteinander von Christinnen und Christen christusgemäss gestalten?
Wir laden Sie herzlich zu dieser österlichen Textmeditation ein:
«Das Weizenkorn»
Aus diesem kleinen Samen wächst der Rohstoff für ein Grundnahrungsmittel: Brot. Auch das wird etwas später zu einem starken österlichen Bild (u.a. Joh 6,35). Doch hier liegt das Samenkorn nicht in der Hand des Müllers, der es zu Mehl verarbeitet. In diesem Bildvergleich liegt das Samenkorn in der Hand des Bauern, der aussät. Und damit entwickelt sich das Bild zu einer Story über ein vertrauensvolles Wagnis. Denn dieses Weizenkorn wird scheinbar weggeworfen. Doch der Bauer weiss: Auch wenn einige von Vögeln gefressen oder Dornen erstickt werden, so werden viele doch Frucht tragen (vgl. Mt 13). Hier ist jedoch nicht von vielen Samen die Rede, sondern von einem einzigen Weizenkorn. Jesus Christus ist das eine Weizenkorn, das auf die Erde geworfen wird.
Jesus bringt sein eigenes Schicksal zur Sprache. Nicht aber, um sich damit wichtig zu machen, sondern um aufzuzeigen, wie das irritierende Geschehen rund um Ostern zu verstehen ist.
«In die Erde fällt und stirbt»
Er ist Gott, der seine Herrlichkeit verhüllt, indem er die irdische Gestalt von uns Menschen annimmt (Matthew Henry). Und noch mehr: Er, der unsterbliche Same, geht wortwörtlich zugrunde. Er wird hineingesät in die dunkle Erde. Er stirbt und liegt im Grab wie die Saat unter dem Acker.
Gott geht den Weg, den wir Menschen alle gehen müssen, bis zum Ende. Er weiss, wie es ist, wenn man hingeworfen wird, zu Unrecht beschuldigt, verraten und gefoltert. Der Gott der Christen ist keine abgehobene Weisheitsfigur, sondern ein mitleidender und nahe gekommener Gott. Er leidet dabei aber nicht nur mit uns, sondern, so sagt dieses Bild weiter, in ganz spezieller Weise FÜR uns.
«Bleibt es ein einzelnes Korn»
Pflanzen verderben und werden früher oder später wieder zu Humus. Auch ein Samenkorn zerfällt mit der Zeit. Christus ist aber nicht wie alle anderen Weizenkörner. Er bleibt, er verdirbt nicht. Er ist der menschgewordene, ewige Gott, der alle Zeit überdauert.
Aber wenn ein Korn einfach bleibt und nicht ausgesät wird, vermehrt es sich nicht. Es bleibt, zwar ein spezielles, aber ein einzelnes Korn. Jesus will und kann sich aber nicht einfach nur selbst erhalten (Adolf Schlatter). Er ist verschenkende Liebe. Er will andere an seinem unvergänglichen Leben teilhaben lassen.
Anders als Christus bleiben wir meist bei uns selbst. Uns liegen Selbsterhalt und Egoismus näher als selbstlose Hingabe. Gefangen von der Macht der Sünde, drehen wir um uns selbst. Der einzige Weg aus dieser unheilvollen Selbstzentrierung führt über das Sterben mit Jesus Christus – und das Auferstehen mit ihm zu neuem Leben. Auch wenn dieses Bild vom Weizenkorn auf das einmalige Geschehen an Ostern zu beziehen ist, so kann es doch auch als Bild für uns alle gedeutet werden: Wenn wir wahres Leben finden wollen, müssen wir unser Leben ganz in Christus verlieren (vgl. Mt 10,39). Nicht durch Martyrium, sondern durch das Sterben und Auferstehen mit Jesus in Taufe und Glauben. So werden auch wir zu verwandelten Menschen, befreit vom ständigen Drehen um uns selbst (vgl. Röm 6). Damit werden wir offen für Gott und für andere. Offen, um uns an andere zu verschenken und nicht allein zu bleiben.
Die Gemeinschaft der Jesus-Nachfolgerinnen und -Nachfolger hat durch ihre selbstlose Hingabe aneinander und andere immer wieder Erstaunen ausgelöst. Da war etwas Ungewohntes, ja gar Übernatürliches am Werk. Sie bildeten ein Ökosystem, eine Gemeinschaft sich gegenseitig befruchtender und unterstützender Menschen – das liess aufhorchen. Und wenn die Menschen sich fragend an die Christen wandten, verwiesen sie auf die Ursache dieses Ereignisses: Ostern.
Wird in unserem Miteinander die von Christus vorgelebte Selbsthingabe und Liebe sichtbar?
«Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht»
Das Kreuz war ein Ärgernis und ist es auch heute noch: Wieso muss dieses blutige Opfer sein? Jesus macht in diesem einfachen Bild klar, dass für ein Leben in Fülle kein Weg am Kreuz vorbeiführt.
Frucht gibt es nur, wenn ausgesät wird. Das Sterben Jesu ist notwendig, damit neues Leben entstehen kann. Paulus nimmt diesen Gedanken im 1. Korinther 15,36ff wieder auf. Jesu Leben kann nur auf andere übertragen werden, wenn er stirbt. Das scheinbar widersinnige Vergraben eines Samens führt schliesslich zum Triumph des Lebens.
Jesus sagt das nicht leicht dahin. Er ist voller Angst und Unruhe im Blick auf den schweren Weg, der vor ihm liegt (vgl. Joh 12,27). Und doch wählt er diesen Weg ans Kreuz, weil er das Leben für uns will. Christus lässt sich am Kreuz «erhöhen», damit er uns «zu sich ziehen» – in die Gemeinschaft mit ihm hineinnehmen kann (vgl. Joh 12,32). Da ist kein Kalkül oder Eigennutz, sondern grosse Liebe. Liebe, die sich für die anderen selbst hingibt.
Aus dem begrabenen Weizenkorn wächst eine unüberschaubar grosse Frucht. Die Hingabe von Christus führt zur Vermehrung des Lebens für unzählig viele. Hier gelten keine biologischen oder mathematischen Grenzen. Die Lebenskraft, die sich aus dem Kreuz entwickelt, ist unerschöpflich. Sie wirkt bis heute rettend. Genauso muss Christus sterben, damit das Leben in Fülle den Sieg davontragen kann.
Ihr wollt Christus treffen? Wenn ihr mir wirklich begegnen wollt, so lautet zusammengefasst die Antwort von Jesus an die Griechen und auch an uns, dann mache ich weiter, wofür ich berufen bin. Denn wenn ich in die Erde falle und sterbe, werdet ihr meine Herrlichkeit erkennen (N.T. Wright). Dort am Kreuz und in der Auferstehung werdet ihr mir wirklich begegnen.
Andi Bachmann-Roth