Christophe nimmt ein Blatt Papier und zerreisst es, schnell und gründlich. Dann hebt er die beiden Hälften hoch. Er hält die fransigen Kanten aneinander, so dass wieder eine Einheit entsteht. «Das», sagt er, «ist für mich Versöhnung».
Christophe Mbonyingabo ist Ruander. Er hat den Völkermord von 1994 überlebt und er weiss, wovon er redet. Er hat die christliche Initiative CARSA («Christian Action for Reconciliation and Social Assistance») gegründet, die sich für Wiederherstellung und Versöhnung zwischen Überlebenden und Tätern des Genozids einsetzt.[1]
Christophes kurze, eindrückliche Antwort auf meine Frage «Was ist für Dich Versöhnung?» weist auf zweierlei hin. Zunächst: Versöhnung oder Wiederherstellung bedeutet nicht notwendigerweise, den Ursprungszustand wiederherzustellen. Insofern ist der Begriff «Wiederherstellung» hier mit Vorsicht zu geniessen. Auch ein zusammengeklebtes Papier wird immer die bleibenden Narben der Gewalttat, die es zerfetzte, tragen. Zudem ist eine «Wiederherstellung» auch nicht immer erstrebenswert, etwa wenn es um die Wiederherstellung eines Zustands gehen würde, der durch Unterdrückung geprägt ist. Und noch etwas Zweites zeigt Christophes Beispiel auf. Wiederherstellung im Sinne einer Versöhnung, einer Heilung von zerbrochenen Beziehungen, ist möglich – aller Verletzungen zum Trotz.
Aber etwas ganz Entscheidendes lässt sich mithilfe des Papiers nicht darstellen: Wiederherstellung ist ein Prozess. Ein Prozess, der viel Zeit beansprucht. Wiederherstellung ist damit sowohl das Ziel dieses Wegs als auch der Weg selbst. Und dieser Weg ist nicht immer gradlinig, sondern verläuft in Serpentinen, führt auf steile und steinige Pfade und bisweilen auch in eine Sackgasse. Eine anspruchsvolle Hochgebirgswanderung also und kein Sonntagnachmittags-Spaziergang. Im Folgenden sollen einige zentrale Wegmarken dieses Weges skizziert werden.
Unten im Tal – Oder: Warum Wiederherstellung?
Wiederherstellung ist dort nötig, wo etwas in die Brüche gegangen ist. Und dem Bruch geht der Konflikt voraus. Wir sind hier also ganz unten im Tal menschlicher Beziehungen. Für die Ursache von Konflikten gibt es in der Forschung zahlreiche Theorien. Reformatorische Theologie sieht den Unglauben als Wurzel allen Übels, theologisch gesprochen: der Sünde. Im Unglauben weist der Mensch die Liebesbeziehung, die Gott ihm anbietet, zurück: ein Bruch mit weitreichenden Folgen für den Menschen, nämlich Lieblosigkeit nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber sich selbst, anderen Menschen und der Umwelt. Entsprechend umfassend ist die neutestamentliche Vorstellung von Sünde, «die Vorstellung eines menschlichen Verhaltens, durch das ein angestrebtes Ziel, ein Weg, eine Beziehung verfehlt wird»[2].
Wenn also Sünde als verfehlter Weg und als zerbrochene Beziehung verstanden wird, ist Wiederherstellung die Heilung von Beziehungen und das Zurechtbringen auf den richtigen Weg. Dem Versöhnungshandeln Gottes in Christus[3] entspricht das Versöhnungshandeln der Menschen untereinander. Im christlichen Engagement für Frieden, Versöhnung und Wiederherstellung treffen somit die vertikale Achse und die horizontale Achse aufeinander. Botschafter der Versöhnung sind dabei nicht nur einzelne Christinnen und Christen, sondern auch Kollektive wie Kirchgemeinden.
Er hat angefangen! Sie ist schuld! – Oder: Achtung vor dem Sündenbock
Konflikte werden oft als «blame game» ausgetragen. Wer ist schuld? Schnell wird ein Sündenbock gesucht und gefunden. Eine christliche Theologie spielt dieses Spiel jedoch nicht mit. Sie lässt sich nicht vom Sündenbock auf eine falsche Fährte locken. Die Suche nach Schuldigen fängt zunächst bei mir selbst an mit dem Bekenntnis meiner eigenen Schuld. Denn Wiederherstellung braucht Wahrheit. Doch lässt die christliche Theologie den Schuldigen nicht mit seiner Schuld allein, sondern zeigt Wege auf jenseits von Sündenbockmechanismus und destruktiver Selbstanklage. Die Beichte, ein scheinbar vergessenes Relikt aus grauer Vorzeit, kommt hier neu in den Blick als «Angebot göttlicher Hilfe»[4]. Ihre lebensspende Kraft für einen Neuanfang gilt es wieder ganz neu und kreativ zu entdecken!
Hier geht es nicht weiter – Oder: Vergebung als Steilwand
Früher oder später stösst man auf dem Weg der Wiederherstellung auf eine Steilwand mit dem Namen «Vergebung». Ob sie überhaupt bezwungen werden kann? Den Zuspruch und Anspruch der Vergebung formuliert zugespitzt das Vaterunser: «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.»[5] Dem steht die Erfahrung unendlichen Leids, etwa angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen, entgegen. Nach Ausschwitz schreibt der Philosoph Vladimir Jankélévitch in Umkehrung der Worte Jesu am Kreuz: «Herr, vergib ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun».[6] Jankélévitch weist uns hier auf zweierlei hin: Vergebung kann nicht eingefordert werden, schon gar nicht von den Tätern. Und: Vergebung passiert nicht einfach von selbst im Laufe der Zeit. Sondern sie kommt, mit Hannah Arendt gesprochen, einem Wunder gleich, einem Einbruch des Letzten in das Vorletzte. Vergebung befreit. Sie befreit das Opfer, das sich wieder als wirkmächtig über das eigene Leben erfährt. Und sie befreit den Täter, der nicht länger auf seine Taten reduziert wird. Der grosse südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu wusste um diese befreiende Macht der Vergebung, als er seinen jahrzehntelang brutal unterdrückten Landsleuten zurief: «No future without forgiveness!»[7]
Absicherungen – Oder: Wiederherstellung braucht Wiedergutmachung
Im Blick auf den andauernden Weg der Wiederherstellung in Südafrika schreibt Mxolisi Mpanbani: «Es waren einmal zwei Jungen, Tom und Bernard. Tom lebte gegenüber von Bernard. Eines Tages klaute Tom Bernards Fahrrad. Von nun an sah Bernard Tom jeden Tag mit seinem Fahrrad in die Schule fahren. Nach einem Jahr kam Tom auf Bernard zu. Er streckte ihm die Hand entgegen und sagte: ‹Komm, wir versöhnen uns miteinander und lassen die Vergangenheit hinter uns!› Bernard schaute auf Toms Hand. ‹Und was ist mit dem Fahrrad?› ‹Nein›, sagte Tom, ‹ich rede nicht über das Fahrrad. Ich rede über Versöhnung.›»[8] Wiederherstellung braucht Wiedergutmachung. Ohne Gerechtigkeit bleibt versöhnende Wiederherstellung leer, ohne versöhnende Wiederherstellung bleibt Gerechtigkeit kalt. Desmond Tutus Satz «No future without forgiveness» braucht daher eine Schwester: «No forgiveness without future»[9].
Autorin: Dr. Christine Schliesser
[1] vgl. www.carsaministry.org.
[2] Härle W., Dogmatik. Berlin 22000, 461.
[3] vgl. 2. Kor 5,14-21.
[4] Bonhoeffer D.: Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel. DBW 5, München 1987, 98.
[5] Mt 6,12.
[6] Jankélévitch V.: Verzeihen? in: Ders.: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, Frankfurt a. M. 2003, 243-283: 265.
[7] Tutu D.: No Future Without Forgiveness. New York 1999.
[8] Zitiert in: Krog A.: Country of my scull. New York 1999, 164 (Übersetzung Christine Schliesser).
[9] Brief von Jürgen Moltmann an die Autorin, 11. September 2019.