Die Selbstliebe ins Zentrum gestellt

 

Esther Lüthi* war als Kind eher burschikos und versuchte sich in der Pubertät dem Äusseren der Mädchen anzupassen. Doch der innere Druck war irgendwann zu gross und so outete sie sich und lebte einige Zeit als Transmann. Sie erzählt, warum sie sich gegen eine Operation entschied, sich heute als Frau bezeichnet und wie der Weg dahin aussah.

 

Schon als Kind habe ich öfter mit Jungs als mit Mädchen gespielt und Jungenkleider getragen. Als eines der ersten Mädchen in meiner Klasse kam ich in die Pubertät und hatte Mühe mit den plötzlichen und schnellen Veränderungen, die gar nicht zu mir passten. Mit dem Übergang in die Sekundarschule hatte ich Angst, mit meiner Art anzuecken und als Aussenseiterin dazustehen. Ich fing an, «weibliche» Kleidung anzuziehen und femininer aufzutreten. Mein Umfeld lobte mein neues Erscheinungsbild und bestärkte mich darin. Doch ich fühlte mich damit nicht wohl, es passte nicht zu mir, ich fühlte mich wie im falschen Film. Stück für Stück verlor ich mein ganzes Selbstvertrauen.

 

Outing als Transmann

Den weiblichen Körper, der sich ohne meinen Willen entwickelte, lehnte ich zutiefst ab und irgendwann war der innere Druck zu gross. Ich schnitt meine Haare ab, zog nur noch «männliche» Kleidung an und isolierte mich völlig in meiner eigenen Welt. Während der Lehrzeit hatte ich dann mein Outing als Transmann und lebte mehrere Jahre mit einem männlichen Vornamen. Das männliche Erscheinungsbild gab mir vermeintlich das Selbstbewusstsein und die Kraft, die ich zu dem Zeitpunkt nicht hatte. Ich war irgendwann überzeugt, dass dies der richtige Weg für mich ist und ich eigentlich ein Mann bin. Einige Zeit war ich in psychologischer Abklärung und erhielt dort ein Gutachten, das mir die Diagnose «Transgender» gab sowie die Möglichkeit, eine Hormontherapie zu starten und geschlechtsangleichende Operationen vornehmen zu lassen.

 

Selbsthass als Dreh- und Angelpunkt

Und doch blieben bis zum Schluss Restzweifel an diesem Weg, unter anderem, weil alle Massnahmen mehr oder weniger irreversibel sind. Ich wartete auf eine endgültige Sicherheit, die jedoch nie eintrat. Heute weiss ich, dass in meinem Fall der Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung mit meinem Selbsthass zusammenhing. Ich bin überzeugt, dass für mich weder eine Hormontherapie noch Operationen das Problem gelöst hätten, das ich mit mir selbst hatte. Nach dieser Erkenntnis habe ich mir Stück für Stück mein Selbstbewusstsein zurückerkämpft, Selbstliebe wiedererlernt und zahlreiche Ängste überwunden – ein jahrelanger Prozess. Dazu gehörte auch die Erkenntnis, dass ich meinem gesunden, wertvollen Körper Unrecht getan hatte und dass Körper und Seele eine unzertrennliche Einheit sind. Unter anderem habe ich meinem Körper einen Entschuldigungsbrief geschrieben und ihn als der Seele gleichwertig anerkannt. Die Frage, wer oder was genau mir den Impuls gegeben und ermöglicht hat, meine Genderdysphorie zu überwinden, beschäftigt mich seit jeher. Es ist für mich nicht auszuschliessen, dass Gott dabei eine Rolle gespielt hat. Meinen Weg zum Glauben muss ich jedoch noch finden.

 

Frausein als Teil der Identität

Heute lebe ich nahezu ohne Dysphorie. Es gibt Tage, an denen mich etwas am eigenen Körper stört. Doch im Gegenteil zu früher, ist es nicht mehr eine grundsätzliche Ablehnung. Das Frausein ist eine biologische und soziale Komponente meiner Identität, und das ist gut so. Es definiert mich aber nicht ausschliesslich. Ich bin in erster Linie Mensch, alles andere ist zweitrangig: wie ich aussehe, meine Interessen, wie und als was ich mich fühle.

 

Während des ganzen Prozesses erlebte ich zum Glück wenig Ablehnung. In der Sekundarschule gab es eine gewisse Zeit lang Mobbingversuche. Ich wurde jedoch nie direkt verbal oder physisch angegriffen, wofür ich dankbar bin. Es ist in meinen Augen enorm wichtig, jedem Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung etc., mit Respekt und Nächstenliebe zu begegnen, zuzuhören und ihn zu anzunehmen. Von meiner liebevollen Familie und grossartigem Freundeskreis fühlte ich mich stets angenommen und unterstützt. Ohne diese Stabilität wäre ich wahrscheinlich nie aus meiner Genderdysphorie herausgekommen.

 

Kirche soll ein Rückzugsort sein

Transmenschen haben nicht selten Schwierigkeiten, in der eigenen Familie oder im Umfeld akzeptiert zu werden. Genau da sehe ich eine grosse Chance für die Kirche, eine wertvolle Stütze für diese Menschen zu sein: die christliche Community als sicherer Rückzugsort, wo sich alle willkommen fühlen dürfen. Ich stosse selbst auf viel Respekt, meist auch Verständnis. In wenigen Fällen spürte ich Ablehnung. Persönlich erlebe ich auch von Christen und Pastoren wertvolle Annahme und Unterstützung.

 


 

Ein «Ich» ohne Maske

 

Mit dem Körper einer Frau geboren und doch nie damit identifiziert. So beschreibt Michael Sager* sein Leben, bis er mit 22 Jahren eine Transition von «Frau» zu «Mann» vollzog. Er gewährt einen tiefen Einblick in seine Geschichte und gibt Tipps, was Kirche und Gesellschaft im Umgang mit Transgendern besser machen könnten.

 

Bereits mit vier Jahren bemerkte ich, dass etwas bei mir nicht stimmte, konnte das aber als Kind nicht richtig einordnen. So habe ich meine Kindheit mit für Jungs typischen Merkmalen und Verhaltensweisen verbracht. Mit dem Einsetzen der Pubertät ging für mich eine Zeitlang die Welt unter. Ich liess mir lange Haare wachsen und versuchte, mich so meinem Körper anzupassen. Niemand wusste Bescheid, dass ich mich innerlich jedoch nicht als Frau, sondern eher als Mann fühlte. Ich bat Gott immer wieder, dass ich mich gemäss meinem Körper fühlen kann, weil ich dachte, dass Christen keine solche Empfindungen haben sollten. Durch eine Freundin kam ich zur Gemeindeseelsorge und erzählte dort von meiner Situation, anschliessend auch meinen Eltern. Zuerst schloss man auf eine Homosexualität, da ich von klein auf Frauen anziehend fand. Doch nach zwei Jahren merkte ich, dass ich nur durch eine Beziehung mit einer Frau auch nicht glücklich wurde. Homosexualität war also nicht mein Zustand. Trotz dieser Erkenntnis ging es mir psychisch nur schlechter und ich versuchte, dies durch Alkoholkonsum zu verdrängen.

 

Im Rollstuhl sitzend die Gehstöcke annehmen

Nach einem schweren Autounfall, in dem mich Gott einmal mehr rettete, begriff mein Hausarzt, dass ich mich in meinem Körper gefangen fühlte und verwies mich an einen erfahrenen Psychiater weiter. «Wieso versuchst du ständig, deine Seele deinem Körper anzupassen?» Die Frage rüttelte mich auf. Mich überzeugte der Aspekt, den geschaffenen Körper (der eines Tages stirbt) der Seele (die in Ewigkeit Bestand hat) anzupassen. Solche ethischen Fragen zu beantworten, war nicht einfach. Für mich war es, als sässe ich im Rollstuhl und gäbe es plötzlich die Lösung, dass ich mit Stöcken gehen kann. Ich entschied mich dann, die Transition meines Körpers von «Frau» zu «Mann» zu vollziehen. Ängste plagten und hinderten mich, mit meinen Freunden und meiner Familie darüber zu reden. Meiner Mutter brach das Herz mit meinem Entscheid der Transition, weil es für sie einfach nicht richtig war. Den zweitgrössten Kampf, den ich führte und heute oft noch von aussen spüre, ist die Frage, ob ich richtig oder falsch bin vor Gott. Ich beantworte sie heute für mich so, dass ich einen Defekt habe – so wie andere Menschen Defekte haben. Ich muss lernen, damit umzugehen, dass Gott kein Wunder vollbracht und nicht dafür gesorgt hat, dass ich mich als Frau fühle.

 

Höhen und Tiefen

Mein Umfeld hat sehr unterschiedlich auf die Transition reagiert. Durch offene Gespräche erfuhr ich viel Gutes und kaum Verletzungen, auch dann, wenn keine Einigung zum Thema «Transgender» gefunden wurde. Mittlerweile hat auch meine Familie Frieden damit schliessen können. Es gab aber Situationen, in denen ich mich ausgeschlossen fühlte. Auch viele Situationen in Kirchen waren nicht hilfreich. Aufgrund meiner Geschichte wurden zum Beispiel meine Leidenschaft für Worship untergraben und die Mitarbeit in der Kinderbetreuung unterbunden. Ich versuchte immer, dies nicht mit den Massstäben, die Gott hat, zu verwechseln. Umso schöner war es, wenn mir Personen von ihren Kämpfen erzählten und so «Leben teilten», anstatt abzuwägen, ob ihre oder meine Situation schlimmer sei.

 

Ich wünsche mir darum immer mehr, dass Verständnis vor Verurteilung kommt, die einzelne Person vor Verallgemeinerung, und Transsexualität nicht mit Homosexualität gleichgestellt wird. Ich wünsche mir auch christliche Gemeinden als «Räume der Gnade», in denen Menschen wie ich grundsätzlich geliebt und angenommen sind, auch wenn nicht alles ideal und perfekt ist.

 

Hier und jetzt

Heute lebe ich mehrheitlich als glücklicher Mann und fokussiere mich nicht ständig auf meine Einschränkungen und die Vergangenheit. Ich kann meinen Träumen nachgehen, mit einer wunderbaren Freundin an der Seite, drei grossartigen Patenkindern und durch die Mitarbeit in meiner Kirche. Ich arbeite an Verhaltensmustern, die sich bei mir eingeschlichen haben und kann darin Jesus immer wieder aufs Neue suchen. Ich bin äusserst dankbar, da zu stehen, wo ich bin, auch mit all den Ängsten die manchmal kommen. Ich weiss, ich bin in den besten Händen unseres himmlischen Vaters.

 

Maske abgelegt

Ich bin in meiner Identität als Transmann nicht Mann wie andere, die biologisch so geboren sind. Trotzdem ist das, was ich jetzt habe, viel besser als das, was ich früher hatte. Vor allem bin ich 100 Prozent mich, ohne Maske. Ich wurde zudem durch meine Geschichte immer wieder gezwungen, mit Gott über offene Fragen zu diskutieren, und lernte so, von ihm abhängig zu sein. Umso mehr freue ich mich auf eine Ewigkeit ohne offene Fragen und ein völliges «Komplettsein».

 

*Namen geändert

 

Aufgezeichnet von Pascale Leuch