Betrachtet man bei Lebewesen die Unterschiede von Geschlechtschromosomen und hormoneller Steuerung, lassen sich in der Regel weibliche und männliche Organismen eindeutig voneinander abgrenzen. Gibt es also beim Menschen auch diese einfache Unterscheidung der Geschlechter, die ebenso eindeutig, gültig wie klar ist?

 

Menschen verfügen in aller Regel in jeder Körperzelle über 23 Chromosomenpaare, davon eines mit zwei ungleich grossen Geschlechtschromosomen. Das kleinere wird Y, das grössere X genannt. Die Kombination XX findet sich bei weiblichen Individuen, die für die Fortpflanzung Eizellen erzeugen. Der männliche XY-Typ produziert Samenzellen. Bei einigen wenigen Menschen gibt es Besonderheiten. So kann zum Beispiel das Y-Chromosom fehlen, wie beim sogenannten Turner-Syndrom, oder es können mehrere X-Chromosomen vorhanden sein.

 

Die Chromosomenkombination in der Erbsubstanz (DNS) eines jeden Menschen ist somit «eindeutig» bestimmbar. Doch führt das auch notwendigerweise zur Produktion eindeutiger Muster weiblicher oder männlicher Hormone, die dann die Geschlechtsdifferenzierung bei einem heranwachsenden Menschen bewirken? Zwar mag die Vorstellung der DNS als Schaltzentrale einleuchtend sein, doch zeigt die Geschlechtsentwicklung und Geschlechtsdifferenzierung des menschlichen Organismus ein wesentlich komplexeres Bild. Es sind daran nicht nur die Gene auf den Chromosomen X und Y beteiligt, sondern auch eine grosse Zahl an weiteren Genen auf verschiedenen Chromosomen. Zusammen bewirken sie schon im Mutterleib geschlechtsspezifische Reaktionen von männlichen und weiblichen Föten auf Umwelteinflüsse. Beispielweise haben bei rauchenden Schwangeren männliche Nachkommen später ein deutlich grösseres Risiko für Bluthochdruck als Mädchen. Bei einem Schwangerschaftsdiabetes der Mutter erkranken Männer später häufiger an Diabetes, Töchter solcher Mütter hingegen neigen eher zu Übergewicht.

 

Eine erstaunliche Komplexität besteht auch bei den meist als «weiblich» oder «männlich» verstandenen Geschlechtshormonen. Östrogene und Androgene sind zwar wesentlich beteiligt an körperlichen Unterschieden, an der Entwicklung von Geschlechtsorganen und an Veränderungen im Laufe des Lebens, sie kommen jedoch nicht nur bei weiblichen bzw. männlichen Personen vor, sondern sie steuern wichtige physiologische Funktionen in beiden Geschlechtern. Menschen entwickeln sich somit als weibliche oder männliche Lebewesen unter vielfältigen inneren und äusseren Einflüssen.

 

Geschlecht: Chancen und Risiken der Biologie
Eine grosse Zahl medizinischer Daten belegt geschlechtliche Unterschiede bei körperlichen Parametern. Frauen sind meistens kleiner als Männer, zeigen einen niedrigeren Body-Mass-Index (BMI), haben mehr Körperfett, einen geringeren Muskelanteil und weniger Körperwasser. Geschlechtsunterschiede in Enzym-Aktivitäten zeigen sich zum Beispiel beim Alkoholabbau in der Leber oder darin, dass Medikamente bei Frauen und Männern nicht gleich wirken. Auch Krankheiten sind ungleich verteilt. So leiden zum Beispiel dreimal mehr Frauen als Männer an Autoimmunerkrankungen. Migräne und Kopfschmerzen treten bei Frauen signifikant häufiger auf als bei Männern. Männer hingegen haben ein höheres Diabetesrisiko. Östrogene schützen bei Frauen die Blutgefässe mit der Folge, dass weibliche Patienten bei einem Herzinfarkt im Schnitt zehn Jahre älter sind als Männer. Depressionen werden bei Frauen zwar doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern, doch begehen Männer zwei- bis dreimal häufiger Selbstmord als Frauen.

 

Gendermedizinische Ansätze in der Medizin sind aus diesen Gründen von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung, jedoch fanden und finden diese nicht immer die notwendige Beachtung. Bei vielen Erkrankungen erhalten Frauen und Männer dieselben Medikamente in gleicher Dosierung, was nicht immer sinnvoll ist. Aspirin schützt beispielsweise Männer eher vor Herzinfarkt, Frauen hingegen vor Schlaganfällen. Beim Schlafmittel Zolpidem genügt für Frauen die halbe Dosis. Über viele Jahre wurden Medikamentenstudien häufig mit jüngeren Männern durchgeführt. Wegen Unterschieden im Stoffwechsel sowie in der Zell- und Hormonstruktur der beiden Geschlechter ist die Aussagekraft dieser Untersuchungen für Frauen jedoch limitiert. Es ist somit noch viel Forschungsarbeit in Sachen geschlechtsspezifische Medikation zu leisten.

 

Wohlfühlen im eigenen Geschlecht
Das biologische Geschlecht ist, wie dargelegt, kein Ergebnis eines einzelnen Geschlechtsfaktors. Ein geschlechtlicher Körper entsteht vielmehr durch Interaktionen genetischer, epigenetischer und hormoneller Faktoren und das im Kontext sozialer Systeme mit bestimmten Geschlechtszuweisungen. Biologische Faktoren haben Einfluss auf die soziale und gesellschaftliche Positionierung und auf die individuelle Persönlichkeit. Zugleich wirken Psyche und Soziales auf die biologische und physiologische Dimension des Menschen. Das geschlechtliche Erleben und Verhalten und die Geschlechtsidentität eines Individuums entwickeln sich somit im Wechselspiel körperlicher und sozialer Einflüsse. Das wird als Rekursivität (Wechselwirkung) von Biologie und Psychologie bezeichnet und kann auch dazu führen, dass physiologische Geschlechtsmerkmale eines Menschen und das Geschlechtserleben voneinander abweichen.

 

Meist bietet die soziale Welt einer Person Hilfestellungen und Leitlinien bei der Sozialisation und Enkulturation (Hineinwachsen in die umgebende Gesellschaft) und unterstützt auf diese Weise eine Synchronisation von biologischem Geschlecht und Geschlechtserleben. Individuelle Erfahrungen oder biografische Ereignisse können jedoch auch zusammen mit unklaren Vorbildern beim Erwerb von Geschlechterrollen und einer persönlichen Geschlechts- und Genderidentität Unsicherheiten bahnen. Sofern nun die gesellschaftliche Toleranz und Akzeptanz ein «Doing Gender» zulässt oder fördert, als Option oder Herausforderung, das eigene biologische Geschlecht zu hinterfragen und sein Geschlecht möglicherweise neu zu bestimmen, eröffnen sich grosse Bandbreiten an Geschlechtserleben und Geschlechtsidentitäten. Diese können für das Individuum, für seine Entwicklung und persönliche Lebensgestaltung als Freiräume wahrgenommen werden, sich aber zugleich als Quellen von Verunsicherungen erweisen. Wenn nun die subjektiv-mentalen Repräsentationen als persönliche Bilder über sich selbst vom körperlich erkennbaren oder genetisch bestimmbaren Geschlecht abweichen, fühlt sich ein Individuum meist in seinem Körper nicht wohl.

 

Autor: Dr. med. Albrecht Seiler