Der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hat zur grössten kriegerischen und humanitären Krise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Es ist kein Ende in Sicht, deshalb müssen sich Christen fragen, was es bedeutet, die unsichtbare Realität des Reiches Gottes inmitten des Krieges zu leben.
Eigentlich begann der Krieg bereits vor acht Jahren. Einige Wochen nachdem die pro-demokratische Maidan-Revolution in der Ukraine den russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch gestürzt hatte, annektierte Russland gewaltsam die Krim und begann einen Krieg im Osten der Ukraine. Jahrelang leugnete die russische Regierung die direkte Beteiligung ihrer Streitkräfte. Dies zeigt, dass Russland immer einen Informationskrieg geführt und versucht hat, eine parallele Realität zu schaffen. Um die aktuelle Situation vollständig zu verstehen, müssen wir die Entwicklungen vor dem Hintergrund der Ereignisse seit 2014 sehen.
Eine existenzielle Bedrohung
Kontrolle über die Ukraine zu haben, ist für Wladimir Putins Lebenstraum von der Wiederherstellung der «russischen Welt» unerlässlich. Eine unabhängige, demokratische und wohlhabende Ukraine, die sich aus dem Einflussbereich ihres Nachbarn entfernt, ist für den modernen russischen Zaren ein absolutes No-Go. Für Putin ist das eine grössere existenzielle Bedrohung als eine mögliche Nato-Erweiterung oder die Integration der Ukraine in die EU.
Das ukrainische Volk widersetzte sich der russischen Kontrolle. Im Jahr 2004 hielten die friedlichen Proteste der Orangen Revolution Putin fern. Aber Anfang 2022 ging er aufs Ganze: Er begann in Europa einen Krieg und setzt bis auf Atomwaffen alle Arten moderner Waffen ein, bis jetzt zumindest. Er hatte die Rückendeckung der Mehrheit der russischen Bevölkerung und die Sympathie vieler Menschen in aller Welt.
Die Wahrheit blieb verborgen durch Putins meisterhaften Einsatz von Mythen, Propaganda und Manipulation. Viele Regierungen haben sich der Täuschung schuldig gemacht, weil Putin leugnet, dass die Wahrheit überhaupt existiert. In Putins «Realität» ist die Ukraine voller Nazis, die diejenigen verfolgen, die russisch sprechen. Der verrottende Westen versucht Russland zu zerstören, das alleine wahren Glauben, Moral und Familienwerte aufrecht erhält. Es gibt keinen Krieg, nur eine spezielle Militäroperation, die Russland gewinnt.
Die Welt hat lange Zeit wenig bemerkt
Diese seit Jahren praktizierte alternative Realität hat seit Mai 2014 viel Leid verursacht. Tausende Menschen verloren ihr Leben und Millionen wurden vertrieben. Die Welt wurde erst hellhörig, als ein Passagierflugzeug, das die Ukraine überflog, versehentlich von russischen Truppen abgeschossen wurde. Über die Jahre hinweg musste die Ukraine mit diesem Krieg leben lernen. Dann, am 24. Februar 2022, wachten Menschen im ganzen Land mit Bombenlärm auf.
Die Explosionen und viele Gräueltaten schickten Schockwellen durch die Ukraine und die ganze Welt. Aber sie haben noch etwas ganz anderes ausgelöst: den Wunsch, anderen zu helfen. Christen und Kirchen in der Ukraine und der ganzen Welt sind sofort aktiv geworden mit Gebet und praktischer Unterstützung. Innerhalb weniger Tage mobilisierten sich Christen in den Nachbarländern, um Millionen von Flüchtlingen, die über die Grenzen flohen, zu helfen.
Zwei Szenarien, den Krieg zu beenden
Der Krieg ist seit Monaten in vollem Gange und ein Ende ist nicht in Sicht. Nach einer Reihe demütigender Niederlagen hat Putin die besetzten Gebiete annektiert, eine riesige Truppenoffensive mobilisiert und offen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Da die Situation immer bedrohlicher wird, fragen sich viele, was es braucht, um den Krieg zu beenden. Im Wesentlichen gibt es nur zwei realistische Langzeitszenarien, ausser es geschieht ein Wunder: Erstens, Russland zieht sich freiwillig zurück oder wird dazu gezwungen. Das würde wohl den Zusammenbruch von Putins Regime bedeuten und die Folgen wären unklar. Zweitens, die Ukraine hört auf zu kämpfen. Das würde ihr Ende als souveräner Staat, den Verlust der Rede- und Religionsfreiheit und von vielem mehr bedeuten. Infolge einer Kapitulation würde die Ukraine so aussehen wie das ehemals besetzte Bucha oder das derzeit besetzte Melitopol. Jede alternative «Lösung» oder «Vereinbarung» würde das Eintreffen eines dieser beiden Szenarien nur verzögern.
Eine Prüfung für jeden Nachfolger Christi
Christus nachzufolgen, ist besonders herausfordernd in einer Kriegssituation. Wie leben wir die unsichtbare Realität des Reiches Gottes darin aus? Für die meisten Gläubigen in der Ukraine bedeutet es, den vom Krieg Betroffenen zu dienen. Für einige bedeutet es, Waffen zu ergreifen und ihr Volk zu verteidigen. Andere sind berufen, in den besetzten Gebieten zu bleiben und den Überlebenden zu dienen. Wir alle haben die Möglichkeit, die Wahrheit auszusprechen. Jeder dieser Ansätze bietet Gelegenheit, das Evangelium Christi zu verkünden und das Reich Gottes voranzubringen.
Was bedeutet es für Gläubige in anderen Ländern und in Russland? Für jeden Nachfolger Christi ist es eine Prüfung der Bereitschaft und Fähigkeit, Gottes Führung zu erkennen und sie auf diese Situation anzuwenden. Die Art und Weise, wie wir reagieren, wird uns für die kommenden Generationen definieren. Aus diesem Grund erinnern sich viele an Dietrich Bonhoeffer. Was wird die Antwort sein, wenn zukünftige Generationen fragen: «Wo war die Kirche, als …?»
Nur Gott weiss, wann und wie dieser Krieg tatsächlich enden wird und was er sonst noch auslösen könnte. Christen sind dafür verantwortlich, die Zeiten zu verstehen und entsprechend zu handeln. Ich persönlich bin denen dankbar, die für den Zusammenbruch der Sowjetunion gebetet und sich vorbereitet haben, den Menschen dort zu dienen, als es soweit war. Ich schätze die Freiheit, die wir in der Ukraine seit vielen Jahren, trotz grossen Herausforderungen und viel Leid, geniessen. Lasst uns dafür beten, dass die Ukraine dieser Bedrohung standhält und als stärkere und korruptionsfreie Nation hervorgeht. Lasst uns dem ukrainischen Volk auf seinem Weg durch das Tal des Todes helfen. Und lasst uns für das russische Volk beten. Viele sind Opfer eines Krieges, den sie nicht gewollt haben. Möge auch Russland frei werden. Aber diese Freiheit wird viel kosten.
Autor: Ruslan Maliuta
Die WEA hat bis im Herbst 1,6 Millionen US-Dollar verteilt
Die Ukraine-Taskforce der WEA koordiniert mit evangelischen Kirchen in der Ukraine und Nachbarländern die Anstrengungen, um den vom Krieg Betroffenen zu helfen. Zudem stärkt sie die Kirchen und Werke in diesem Dienst. Bis Oktober 2022 konnte die WEA 1,6 Millionen US-Dollar verteilen. Ihre Partner-Netzwerke mobilisierten unter anderem 65‘716 Mitarbeitende und Freiwillige, lieferten grundlegende Hilfsgüter für 2’241’693 Personen und evakuierten 380‘843 Menschen.