Auf politischer Ebene läuft eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG), um Menschen mit Behinderungen besser vor Diskriminierungen zu schützen. Der Dachverband Freikirchen.ch und der Verein «Glaube und Behinderung» haben sich in der Vernehmlassung dazu geäussert. Anlass genug, um mit zwei Vertretern – Peter Schneeberger und Markus Zuberbühler – über gesetzliche Vorgaben und ihre Zumutbarkeit für Kirchen, aber auch über Haltungsfragen zu sprechen.
Markus Zuberbühler, für «Glaube und Behinderung» ist es ein Kernanliegen, dass Menschen mit Behinderungen selbstverständlich Teil der Kirchen sein können. Was ist in dieser Hinsicht der Auftrag der Kirche – und warum?
Jesus war sehr inklusiv gegenüber allen Randgruppen und die biblischen Geschichten nehmen immer Menschen vom Rand ins Zentrum. Darin sehe ich den Auftrag der Kirche begründet, dass alle dazugehören dürfen.
Peter Schneeberger, welche Bedeutung hat das Thema für die Freikirchen in der Schweiz – und warum?
Auch für mich ist der Auftrag im Evangelium definiert, konkret in Römer 15,7: «Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat.» Das ist die theologische Grundlage, dass wir als Kirche alle Menschen annehmen – unabhängig von ihrem Hintergrund, ihren Schwächen oder auch ihrer Behinderung. In einer auf Selbstoptimierung ausgelegten Gesellschaft soll die Kirche erst recht ein Ort sein, wo Menschen auch schwach sein dürfen.
Als wie inklusiv nehmen Sie die Kirchen in der Schweiz wahr?
MZ: Im Vergleich zu anderen Personengruppen wie Ausländer oder Familien sehe ich einen grossen Nachholbedarf, damit Kirchen auch für Menschen mit einer Behinderung einladend sind. Wo eine Betroffenheit da ist, wird viel getan. Aber es gibt noch zu viele Menschen, die keine Möglichkeit haben, einen Gottesdienst zu besuchen.
PS: Ich teile die Erfahrung: Wenn keine Betroffenheit im Umfeld da ist, ist es schwierig, Kirchen dafür zu sensibilisieren. Aber sie haben Möglichkeiten und die sollen sie umsetzen. Dabei gilt es abzuwägen zwischen dem Machbaren und dem, was die Möglichkeiten einer Freikirche sprengt.
MZ: Es geht nicht einseitig darum, Forderungen an die Kirchen zu stellen, sondern dass auch die Betroffenen ihren Beitrag leisten. Inklusion ist eine gegenseitige Sache und es gilt, miteinander ins Gespräch zu kommen und gemeinsam einen Weg zu finden.
Was sind Massnahmen mit grossem Nutzen, die mit wenig Aufwand umsetzbar sind?
PS: Beispiele sind eine grosse und gut lesbare Schrift auf Bildschirmen, ein barrierefreier Zugang zum Gottesdienstsaal und den Toiletten, mit Hörgeraten kompatible Soundanlagen. Wenn ein kirchlicher Angestellter beispielsweise Rollstuhlfahrer ist, kann eine einfache Massnahme auch sein, Sitzungen vermehrt per Videokonferenz oder bei dieser Person zuhause abzuhalten.
MZ: Wichtiger als Anpassungen der Infrastruktur scheint mir die Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung. Da erleben wir immer wieder auch theologisch fragwürdige Dinge, beispielsweise wenn am PraiseCamp ein Teilnehmer im Rollstuhl ungefragt «bebetet» wird. Statt als Objekt für eine mögliche Wunderheilung wollen Menschen mit einer Behinderung als Mensch wahrgenommen werden. Für viele ist ihre Behinderung nicht primär ein Leiden, sondern eine Lebensart. Gefragt ist ein Sichtwechsel hin zu den Stärken und dem Potenzial dieser Menschen.
PS: Ich finde solche «Gebetsüberfälle» auch übergriffig. Ich glaube aber, dass wir heute eine gesundere Haltung zu Heilung und Umgang mit Leiden haben als vor zehn Jahren. Ich erlebe in vielen Gemeinden diese menschenfreundliche Haltung, dass Menschen mit einer Behinderung als vollumfängliche, ganze Nachfolger von Jesus gesehen werden. Diese Sicht müssen wir noch verstärken.
Wie kann das gelingen?
PS: Als Theologe argumentiere ich primär theologisch: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild, gleichzeitig tragen wir Züge der gebrochenen Schöpfung. Mit dieser Spannung müssen wir umgehen, ob wir eine Behinderung haben oder nicht. Gott ist aber in sich inklusiv, kann er doch drei Personen in einer sein. Schliesslich betont das Evangelium, dass es zwar Unterschiede gibt, so auch unterschiedliche Lebenssituationen, aber das soll uns nicht daran hindern, uns als eins zu sehen in Christus.
MZ: Ich behaupte, dass alle in ihrem Umfeld Menschen haben, die mit einer Behinderung leben. Die Frage ist, ob man ein Auge für sie hat. In diesem Sinn wäre ein erster Schritt, als Gemeinde den Kontakt zu Menschen mit Behinderung zu suchen, die noch nicht da sind, und sie aktiv einzuladen.
Die aktuelle Teilrevision des BehiG fordert von Anbietern öffentlicher Dienstleistungen angemessene und für sie zumutbare Vorkehrungen gegen Benachteiligungen von Menschen mit einer Behinderung. Was bedeutet das für die Kirchen?
PS: Klar ist, dass die Gesetzesrevision die Kirchen als Arbeitgeber in die Pflicht nimmt. Wir teilen das Anliegen, dass auch Kirchen Menschen mit einer Behinderung anstellen und barrierefreien Zugang zu Arbeitsplätzen gewährleisten. Demgegenüber ist nicht geregelt, ob ein Gottesdienst als Dienstleistung gilt. Deshalb sind die Kirchen aus unserer Sicht von dieser Forderung nicht betroffen. Zudem halten wir für falsch, dass die Nichtumsetzung mit Sanktionen belegt wird. Denn es würden Massnahmen nötig, die für Freikirchen schlicht nicht umsetzbar wären. Bauliche Massnahmen beispielsweise würden viele kleine Gemeinden überfordern.
MZ: Unserer Ansicht nach gelten Gottesdienste als öffentlich zugängliche kulturelle Dienstleistungen und werden somit vom Gesetz erfasst, auch wenn Kirchen nicht explizit erwähnt werden. Es erstaunt uns, dass sich die Freikirchen da nicht angesprochen fühlen, haben sie doch den Anspruch, alle Menschen zu erreichen. Das Gesetz verlangt zudem nur zumutbare Massnahmen.
Was ist denn für eine Kirche zumutbar?
PS: Für Kirchen ist es zumutbar, die Teilhabe an Gottesdiensten für Menschen mit Behinderung ohne Einschränkung zu ermöglichen. Inwiefern das auch für weitere kirchliche Angebote möglich ist, muss im Einzelfall angeschaut werden.
MZ: Es gibt viele kleine Dinge, die mit 20 Prozent Aufwand 80 Prozent Nutzen erzielen, beispielsweise gut lesbare Beschriftungen. Aber letztlich ist es wieder eine Frage der Haltung: Brauchen wir ein Gesetz und Vorschriften oder tragen wir unseren Teil dazu bei, dass alle dazugehören können, weil es unser Kernanliegen ist?

Das Gespräch führte Daniela Baumann. Sie ist Kommunikationsbeauftragte der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA.