Es ist ein gewöhnlicher Gottesdienst, wie sie in Schweizer Kirchen Woche für Woche in grosser Zahl gefeiert werden. Oder doch nicht? Was ich an diesem herbstlichen Sonntagmorgen erlebe, ist in der Arche Winti (BewegungPlus Winterthur) tatsächlich nicht aussergewöhnlich: Hier sind gehörlose und schwerhörige Menschen ganz selbstverständlich Teil der Gemeinschaft – offiziell bekannt als «Deaf Community Group».
Ich betrete rund 20 Minuten vor Beginn des Gottesdienstes den Saal, denn ich möchte mich schon vorab Roland und Patricia Hermann-Shores vorstellen, den Leitern der Deaf Community, mit denen ich mich im Anschluss an den Gottesdienst zum Gespräch verabredet habe. Wobei «Gespräch» in diesem Fall nicht auf der Hand liegt: Wie werden wir uns verständigen? Ist die Dolmetscherin schon da oder wissen wir uns erstmal ohne sie zu helfen? Mit solchen Fragen im Hinterkopf nähere ich mich einer Traube von Menschen, die hingebungsvoll Lieder singen – die einen mit ihrer Stimme, die anderen mit den Händen. Eine Bekannte stellt mir meine Gesprächspartner vor. Die Begrüssung, ein Gemisch aus Gebärden und Worten, ist sehr herzlich und fröhlich. Als es um die Klärung geht, wo wir nach dem Gottesdienst ungestört reden und Fotos machen können, bin ich aber froh, dass die professionelle Gebärdensprach-Dolmetscherin Regula Bächler da ist und sofort zu übersetzen beginnt.
Ich setze mich in einer der vorderen Reihen hin, wo auch die gehörlosen und schwerhörigen Besucherinnen und Besucher Platz genommen haben. Sobald die Band mit einem Lied den Gottesdienst eröffnet, tritt eine weitere Person auf die Bühne, die es in Gebärdensprache übersetzt. Wie sich Musik für Menschen anfühlen mag, die sie nicht hören? Ich spare mir die Frage für später auf. Für die Predigt tritt Regula Bächler auf den Plan, die sich mit einer Berufskollegin abwechselt und an rund zwei Sonntagen pro Monat in der Arche Winti dolmetscht.
Segen für alle
Seit gut vier Jahren werden die Gottesdienste in der Freikirche BewegungPlus in Winterthur für Menschen mit Hörbehinderung gedolmetscht. Roland und Patricia Hermann-Shores hatten sich in diversen Gemeinden umgeschaut, aber es sei in der Arche gewesen, wo ihnen der Heilige Geist gezeigt habe: Das ist der Ort, um etwas für gehörlose und schwerhörige Christen aufzubauen. Sie wussten zu jenem Zeitpunkt noch nicht, dass gleichenorts vor Jahren die Christliche Gehörlosen-Gemeinschaft gegründet worden war und schon einmal ein Angebot für Gehörlose existiert hatte. Und auch die Entwicklung der vergangenen Jahre ist für sie ein klares Zeichen von Gottes Wirken: «Wir haben gebetet und nach und nach sind mehr Leute dazugekommen. Wir wissen nicht wie, denn Werbung haben wir keine gemacht.» Heute zählen sie rund 30 Personen aus der ganzen Deutschschweiz.
Die Pastorin Nadja Thalmann erinnert sich an die Anfrage von Hermanns und dass die Gemeindeleitung nach einigen Gesprächen und Gebeten relativ schnell zur Entscheidung gekommen ist, darauf einzugehen. «Man muss zwar immer eine Meile mehr denken, es braucht viele Absprachen und natürlich auch Geld. Beispielsweise können wir nicht spontan vor dem Gottesdienst ein Lied auswechseln, denn die Übersetzer müssen sich vorbereiten können.» Aber die Vorzüge überwiegen: «Es ist ein Segen für die ganze Gemeinde, denn die Deaf Community bringt viel Leben rein und wir stehen voll hinter ihrem Anliegen, unter diesen Menschen Reich Gottes zu bauen.»
Ein gemeinsamer Lernweg
Die Arche Winti tut nicht wenig dafür, um Hürden abzubauen: Roland und Patricia Hermann-Shores sind bei den Treffen der Leiterschaft dabei, werden auch mal zum Predigen eingeladen oder es wird ein Workshop durchgeführt, damit hörende Gemeindeglieder ein wenig Gebärdensprache erlernen können. Nadja Thalmann betont, dass es ein Weg sei, auf den sie sich gemeinsam begeben haben und auf dem sie alle laufend dazulernen.
Roland Hermann, der lange Präsident des Schweizerischen Gehörlosenbunds war und als Schweisser in der Luftfahrtindustrie tätig ist, sieht es ähnlich. Zwar seien viele Angebote der Kirche noch nicht zugänglich für ihn und seine Leute. Aber auf der anderen Seite seien Gehörlose und Schwerhörige in keiner anderen Gemeinde in der Schweiz so umfassend integriert wie hier. «Wir wollen nicht fordernd und kämpferisch auftreten, sondern gehen Schritt für Schritt und sensibilisieren immer wieder dafür, uns nicht zu vergessen und an die Übersetzung zu denken.» Seine Frau Patricia, die als Professorin an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich lehrt, ergänzt, dass es darüber hinaus wichtig sei, nicht nur zu übersetzen. Vielmehr brauche es auch ausgebildete Gehörlose, die wiederum andere Gehörlose im Glauben unterrichten können. Denn die direkte Kommunikation sei immer besser, als wenn sie über einen Dolmetscher vermittelt werden muss.
Von unsicher zu kontaktfreudig
Und doch kommt dieser Aufgabe im Alltag eine wichtige Rolle zu. Regula Bächler umschreibt sie so: «Hörende können mich als Werkzeug brauchen, um mit Gehörlosen zu sprechen. Manchmal muss ich sie aber darauf hinweisen, dass ich nur vermittle und es nicht um mich geht. Sie sollen die Person, mit der sie kommunizieren wollen, direkt ansprechen.» So freut sie sich, dass mittlerweile spontane Kontakte unter den Gemeindegliedern ohne ihre Übersetzungsleistung entstehen.
Auch Roland und Patricia Hermann-Shores stellen diesbezüglich eine positive Entwicklung fest: «Am Anfang waren Hemmungen da, man spürte die Unsicherheit uns gegenüber, aber inzwischen ist die Gemeinde sehr offen und kontaktfreudig geworden. Viele haben gelernt, dass wir ganz normale Menschen sind.» Ein Freund, Andreas Kolb, der an diesem Morgen ebenfalls da ist, bestätigt: «Hörende und nicht hörende Menschen nähern sich nach und nach an: Man lernt sich gegenseitig kennen, isst miteinander, schreibt einander und einige lernen sogar die Gebärdensprache.» Ihm bedeutet es viel, dass alle gemeinsam Gottesdienst feiern können: «Wir brauchen einander, lernen und profitieren von den anderen.»
Lieder in Bildern
Voneinander profitieren – das ist ein gutes Stichwort für meine Frage vom Anfang, wie ich mir eine Anbetungszeit mit Musik als gehörlose Person vorstellen muss. Andreas Kolb erklärt, dass mit der Übersetzung in Gebärden eine zusätzliche Dimension dazukomme. So würden sogar hörende Gottesdienstbesucher von den «Bildern» profitieren, mit denen die Lieder in Gebärden ausgedrückt werden. Tatsächlich, ich erinnere mich, dass ich im Gottesdienst nicht nur mitgesungen, sondern zugleich intuitiv darauf geachtet habe, wie die gebärdeten Lieder aussehen – mehrdimensionaler Lobpreis!

Daniela Baumann ist Kommunikationsbeauftragte der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA.