Die radikal dekonstruktivistische Gender-Theorie zielt auf die Auflösung der Geschlechtsdifferenz, lässt die Natur in der Kultur verschwinden. Der Körper wird als un-wirkliches, passives Objekt verstanden und damit abgewertet. Was hat dem das Christentum entgegenzuhalten?

 

Die sex-gender-Debatte löst die noch vom Feminismus unbestrittene Geschlechtsdifferenz radikal auf. Nach Judith Butler[1] verschwindet biologisches Geschlecht (sex) im sozialen, kulturellen oder subjektiv gefühlten Geschlecht (gender). Die Hauptthesen lauten: Biologische Fakten sind immer rollenmässig konnotiert; vorsprachliche Fakten gibt es nicht, da Sprache immer schon Interpretation ist. Normativität kann niemals aus Natur, immer nur aus Kultur stammen; die Rede von Mann und Frau ist in ihrer verborgenen, durchwegs unbewussten Normativität aufzudecken. Erst der Imperativ der heterosexuellen Norm führt zu einer binären Geschlechtswahrnehmung: Allein diese wird daher als einzige eingeblendet. Andere geschlechtliche Möglichkeiten fallen aus. Wenn aber Geschlecht als Folge einer latenten, unbegründeten Norm durchschaut ist, verschwindet die Auffassung vom «anderen» Geschlecht.

 

Soziologie dekonstruiert Biologie

Zweigeschlechtlichkeit wird damit als Machtdiskurs zur Durchsetzung bipolarer männlich-weiblicher Rollen verstanden. Jede Bipolarität transportiert – unterschwellig oder offen – die Dominanz der einen und die Repression der anderen Seite. «Mensch» bleibt als einzige nicht-repressive Kategorie zurück. Damit kommen Theater-Metaphern und virtuelle Selbstentwürfe ins Spiel: Hinter der geschlechtlichen «Maske»[2] sei das Ich «nichts als» Selbstfiktion. «Weiblichkeit» polarisiert sich nicht mehr gegenüber der «Männlichkeit», sondern unterläuft den Gegensatz: Soziologie dekonstruiert Biologie.

 

Die Faktizität des Körpers gilt als leer, als tabula rasa einer Mehrfach-Überschreibung. «Fliessende Identität» will auch das mit seinem Geschlecht identische Subjekt als aufgezwungene Norm aufdecken. Die Umformung von Sprache, sofern sie die Norm binärer Geschlechtlichkeit tradiert, ist politisches Ziel der Dekonstruktion. Grammatik wird aufgebrochen: Der «gender-neutrale» Plural they soll den he/she-Singular ersetzen; person die Wörter man/woman (offizieller Beispielsatz: «This person carries their bag under their arm.»).

 

Die radikal dekonstruktivistische Gender-Theorie steht dem Gedanken einer Gegebenheit des Geschlechts deswegen abweisend gegenüber, weil darin ein rascher Schritt vom Sein zum Sollen vermutet wird: als «biologistischer Fehlschluss».

 

Theoretisch angezielt werden: Geschlechtsindifferenz, Geschlechtswechsel, weiblich-männliches Rollenspiel, Bi- und Homosexualität statt «Zwangsheterosexualität», Körper als virtuelle Selbstinszenierung (operative/künstlerische Umwandlung), politische und sprachliche Aufhebung der Kategorie Geschlecht, fliessende Identität.

 

Kritik: Ist der Leib Objekt oder Subjekt?

Die mittlerweile einsetzende Kritik deckt das Verschwinden der Natur in Kultur, das Verschwinden des lebendigen Leibes im neutralen Körper und den Verlust personaler Subjektivität und ihrer politischen Relevanz auf. Die Hauptthesen lauten: Lebensweltlich ist die Mehrdeutigkeit von Geschlecht und offenem Rollenspiel identitätszerstörend und selbstwidersprüchlich: Die politische Frauenbewegung, auch der Feminismus, verliert durch Dekonstruktion des Frauseins das Subjekt. Leiblichkeit ist schon in Zeugung, Schwangerschaft und Geburt unhintergehbar; Bipolarität ist grundsätzlich nicht auszuschalten, weder sprachlich/symbolisch noch lebensweltlich noch biologisch; selbst Homosexualität agiert heterosexuell, wie selbst Judith Butler feststellte.[3]

 

Butler verstärkt sogar den sex-gender-Dualismus, indem der Körper als un-wirkliches, passives Objekt, nicht mehr als Subjekt des Diskurses verstanden wird. Ihn zu überschreiben, weist auf ein dominantes Verhalten hin: Körper anstelle von Leib verliert die eigene «Sprachlichkeit», zum Beispiel seine unterschiedliche Fähigkeit zum Zeugen und Empfangen/Gebären oder seine unterschiedliche leibhafte Erotik von Eindringen und Annehmen. Die Leibsymbolik wird nicht fruchtbar, die phänomenale Selbstaussage kastriert. So gesehen liefert Butler eine erneute Variante der extremen Bewusstseinsphilosophie mit ihrer Körper-Geist-Spaltung, denn die Dekonstruktion des Leibes bringt den widerstandslosen «vorgeschlechtlichen Körper» hervor.

 

Statt des «biologistischen» herrscht dabei ein «normativistischer Fehlschluss»: Normen werden – je nach Situation oder Individuum – als willkürlich aufgehoben, ohne je einen sachlichen Bezug vorauszusetzen.

 

Insgesamt kommt es also zu einer Abwertung des Leibes, nämlich zu seiner Entwirklichung und Denaturalisierung. Sofern Wirklichkeit nur über Rollenspiel – ob dekonstruiertes oder neu konstruiertes – erklärt wird, verlieren sich gültige Aussagen über Identität. Sofern auch der Körper nur Spielplatz beliebig wechselnder Bedeutungen sein soll, bedürfte es jeweils erst der Verhandlungen, in welchem Sprachspiel «der Körper» zu behandeln sei. Auch wechselnde Eigenschaften bedürfen eines konstanten Trägers. Gegenüber dem variablen «Rollenspiel» und der Auflösung des Ich in ein «Produkt männlicher Aufklärung» ist vielmehr der Begriff der Person neu und vertieft ins Auge zu fassen. Er unterfängt die Geschlechtsdifferenzen, ohne sie aufzuheben: durch die gemeinsame Personalität.

 

Der Mensch ist komplex

Häufige Gegenfrage: Sind nicht unter dem Stichwort Gender, verstanden als «Geschlechtergerechtigkeit», heute im politischen Raum wichtige Massnahmen für Jungen und Mädchen, Männer und Frauen eingefordert? Antwort: In der Regel ist dabei der harte Kern des Begriffs nicht bewusst oder man glaubt, ihn einfach praktisch nutzen zu können. Anthropologie hat den Menschen als spannungsreiche Wirklichkeit zu beschreiben, «ausgespannt» zwischen dem Pol einer gegebenen Ausstattung der Natur und dem Gegenpol der Veränderung, einem Werden, der Kultur. Selbstgestaltung ist in eine komplexe Ausgangslage gestellt. Das Geschlecht ist zu kultivieren, aber als naturhafte Vorgabe – was könnte sonst gestaltet werden? Beides, Natur und kulturelle Überschreibung, lässt sich an den zwei unterschiedlichen Zielen der Geschlechtlichkeit zeigen: der erotischen Erfüllung im anderen und der generativen Erfüllung im Kind, wozu allemal zwei verschiedene Geschlechter vorauszusetzen sind.

 

Welche Lösungen wahrt das Christentum?

Den neutralisierenden Überformungen des Geschlechts stehen Entwürfe gegenüber, die den Leib – im Alten (AT) wie im Neuen Testament (NT) – subjektiv als Träger der Personalität sehen und intersubjektiv weitergehend als Träger aller Beziehungen, zu Welt, den Menschen, zu Gott. Im AT ist die innere Nähe von Geschlechtsliebe und Gottesbeziehung mit grosser Unbefangenheit ausgesprochen, am strahlendsten im Hohenlied, wo die leibliche Liebe der beiden Menschen zueinander auch auf die Liebe des Schöpfers zu seinem Geschöpf gelesen werden kann. Im NT wird die «Fleisch»werdung Gottes ein Neueinsatz und eine Herausforderung: Wie kann Gott überhaupt einen Leib und ein Geschlecht annehmen? Dies ist entgegen allen Idealisierungen leibloser Göttlichkeit die eigentliche Unterscheidung von allen anderen religiösen Traditionen, sogar vom Judentum. Caro cardo – das Fleisch ist der Angelpunkt. Die Inkarnation Gottes setzt das gesamte Leibphänomen in ein neues, unerschöpfliches Licht – nicht minder die leibliche Auferstehung zu todlosem Leben. Auch Kirche wird als Leib gesehen, das Verhältnis Christi zur Kirche als bräutliches[4], und die Ehe wird zum Sakrament: zum Zeichen realer Gegenwart Gottes in den Liebenden.

 

So wird der Eros in den Bereich des Heiligen gestellt, und ebenso Zeugung und Geburt: Sie sind paradiesisch verliehene Gaben.[5] Nie wird nur primitive Natur durch Christentum (und Judentum) verherrlicht: Sie ist vielmehr selbst in den Raum des Göttlichen zu heben, muss heilend bearbeitet werden. Könnte die alte Genesis-Vision heute erneuert werden, dass sich in dem Einlassen auf das fremde Geschlecht eine göttliche Spannung, die Lebendigkeit des Andersseins und die Not(wendigkeit) asymmetrischer Gemeinschaft ausdrückt? Schöpferisches, erlaubtes, leibhaftes Anderssein auf dem Boden gemeinsamer göttlicher Grundausstattung – mit dem Antlitz von Frau oder Mann: das ist der Vorschlag des Christentums an alle Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen.

 

Autorin: Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

 

[1] vgl. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, 1990.

[2] Flax, Jane: Thinking Fragments. Psychoanalysis, Feminism and Postmodernism in the Contemporary West. Berkeley, 1990, 32.

[3] vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt, 1991, 58.

[4] vgl. Eph 5,25.

[5] vgl. Gen 1,28.