Geschlagen, missbraucht und weggeworfen: All dies passiert im kirchlichen Kontext, wie dieses Jahr die «Rundschau» von SRF zeigte. Abhängigkeiten, Geschlossenheit und Machtstrukturen ohne Rechenschaftspflicht machen auch Kirchgemeinden anfällig für grenzüberschreitendes Handeln. Das Ziel ist absolute Nulltoleranz – was ist zu tun?
Im erwähnten Rundschau-Beitrag berichten minderjährige Frauen von schrecklichen Übergriffen des Pastors in ihrer Kirchgemeinde. Die Frauen litten angeblich unter dämonischer Belastung, von der sie der Pastor befreien wollte. Der Rundschau liegen anzügliche Videos des Pastors vor, in denen er mit minderjährigen Frauen chattet und ihnen sexuelle Avancen macht. Die Angst unter den Frauen ist riesig und sie trauen sich nicht, den Missbrauch öffentlich zu machen. Der Missbrauch geht bis zur sexuellen Nötigung. So der mutmassliche Tatbestand über das missbräuchliche Verhalten eines Pastors, der in tamilischen Kirchgemeinden wirkt.
Dieser übelste Missbrauch ekelt mich an und macht mich für die Opfer unglaublich betroffen. Als Dachverband Freikirchen.ch mit über 750 angeschlossenen Freikirchen müssen wir Strukturen schaffen, in denen Grenzüberschreitungen verhindert werden. Genau dies ist das Ziel des Netzwerks «Gemeinsam gegen Grenzverletzung».[1] Wir ermutigen unsere Mitgliederverbände, Teil davon zu werden; viele sind es bereits. Indem sie eine Charta unterzeichnen, verpflichten sie sich zu absoluter Nulltoleranz.
Zuerst gilt es hinzuschauen: Missbrauch im kirchlichen Umfeld ist doppelt tragisch und verwerflich, denn Menschen suchen die Nähe Gottes und werden in diesen intimen Momenten von Gottes Personal missbraucht. Zwei grosse Studien haben hingeschaut: Im September 2023 wurden problematische Grenzüberschreitungen und schwerste, systematische Missbräuche in der Römisch-Katholischen Kirche in der Schweiz aufgedeckt. Zu ähnlichen Ergebnissen kam die Missbrauchsstudie ForumM im Januar 2024 in der Evangelischen Kirche Deutschlands. Nicht anders sieht es in Freikirchen und Gemeinschaften aus, wie die regelmässigen Gespräche vom Dachverband Freikirchen.ch mit der Fachstelle Infosekta zeigen.
Was ist schiefgelaufen?
Gemäss Armin Nassehi geschehen sexuelle Übergriffe, sexualisierte Gewalt und Missbrauch überall dort, wo sich extreme Machtverhältnisse und Abhängigkeiten mit Geschlossenheit und Unsichtbarkeit verbinden.[2] Deshalb sind die präferierten Orte dafür auch Familien und Organisationen. Auch eine Frei- oder Landeskirche hat eine Dynamik zwischen innen und aussen mit zugewiesenen Rollenbildern. «Wir gehören zur Familie und wir gehören zur Kirchgemeinde», so beschreiben Christinnen und Christen ihr Leben in der Gemeinde. Abhängigkeiten, Geschlossenheit und Machtstrukturen ohne Rechenschaftspflicht machen sowohl Familien wie auch Kirchgemeinden – und alle anderen Organisationen mit starkem Lebensanspruch – anfällig für grenzüberschreitendes Handeln.
Wir haben zu wenig darauf geachtet, wie Eltern hehre Erziehungsgrundsätze von der Kanzel zuhause umgesetzt haben. Noch 2001 propagierte ein evangelikales Pädagogikbuch Schläge als mögliches Erziehungsmittel.[3] Diese Angstkultur hat nicht zu einem befreiten Christenleben geführt. In Freikirchen treten gemäss dem Opferanwalt Christian Schürmann zwei Typen grenzüberschreitend auf: Täterinnen und Täter mit einer unaufgearbeiteten Missbrauchsgeschichte und Erwachsene, die als Kinder vernachlässigt wurden und mit einer falschen Vorstellung von Sexualität grossgeworden sind.[4]
Grenzüberschreitendes Handeln kratzte am Stolz der Gemeindeleitungen. So wurde stark auf den Ruf der Gemeinde und ihrer Repräsentanten geachtet und Grenzüberschreitungen unter den Teppich gekehrt. Das hatte zur Folge, dass die Opfer von Grenzüberschreitungen nicht gehört wurden. So haben Opfer nicht nur das Vertrauen in Menschen verloren, sondern auch in Gott.
Pastorinnen und Pastoren wurden, wie andere Autoritätspersonen in der Gesellschaft, als Inbegriff des göttlichen Botschafters gesehen und auf einen Sockel gehoben. Daraus entstanden Machtgefälle und Abhängigkeiten. Das persönliche Glaubensleben wurde entsprechend den Weisungen des Pastors gelebt und nicht aus einer mündigen Beziehung zu Jesus Christus.
Was machen mit diesem Befund?
Ich schaue nicht weg! Ich spreche darüber und setze mich für starke präventive Massnahmen ein. Anfang Oktober 2023 wurde ich in den «Club» von SRF zur Fragestellung eingeladen: Was läuft schief in christlichen Schulen? Im Nachgang dieser Sendung zu Grenzüberschreitungen in christlichen Schulen, Familien und Kirchgemeinden habe ich viele Zuschriften bekommen. Darunter waren Opfer, die ihren Frust abgeladen haben. Sie haben recht. Seit 2017 betreiben der Dachverband Freikirchen.ch und die Schweizerische Evangelische Allianz eine unabhängige Clearingstelle, die als Meldestelle für Grenzverletzungen im kirchlichen Kontext auftritt. Ich treffe mich regelmässig mit religiösen Informationsstellen, um gemeinsam für Grenzüberschreitungen anfällige Strukturen in Kirchgemeinden zu durchleuchten. Nicht zuletzt haben sich im erwähnten Netzwerk «Gemeinsam gegen Grenzverletzung» bereits über 60 Fach- und Kirchenverbände zusammengeschlossen, um einander zu helfen, einen glaubwürdigen und wirksamen Umgang mit Grenzverletzungen zu etablieren.
Missbrauch ist möglich in Freikirchen: «Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach.»[5] Mein Einsatz gilt dem Aufbau eines kirchlichen Raumes, in dem jede Person geschützt ihren Glauben praktizieren kann.
Ich möchte zum Schluss ein paar einfache Grundsätze für das gemeindliche Leben in Frei- und Landeskirchen in Anlehnung an das Buch «Religiösen Machtmissbrauch verhindern» nennen:[6]
- Dienende Leiterschaft ist transparent.
- Es werden Leitungsstrukturen geschaffen, die eine Rechenschaftskultur zulassen.
- Es wird offen kommuniziert und Konflikte werden angegangen, bevor es eskaliert.
- Die Leitung braucht fachliche und geistliche Begleitung/Supervision.
- Der Opferschutz wird hochgehalten.
- Die Gemeinde entwickelt gesunde Erziehungsgrundsätze, die heilsam sind.
[1] vgl. https://stopgrenzverletzungen.ch.
[2] vgl. Nassehi, Armin: Montagsblock /258. 2024, https://kursbuch.online/montagsblock-258/ (8.1.2024).
[3] vgl. Mauerhofer, Armin: Pädagogik nach biblischen Grundsätzen. Band 1 & 2. Holzgerlingen, 2001.
[4] vgl. Schürmann, Christian: Sexueller Missbrauch in Freikirchen. IDEA Wochenmagazin Nr. 5 2024, 25-27.
[5] Matthäus, Kapitel 26, Vers 41.
[6] vgl. Kessler, Martina (Hrsg.): Religiösen Machtmissbrauch verhindern. Giessen, 2021.
Autor: Peter Schneeberger

Peter Schneeberger ist Präsident des Dachverbands Freikirchen.ch und war Vorsitzender der FEG Schweiz.