Mirjam Neis ist diplomierte Pflegefachfrau und setzt sich im Vorstand des Swiss Restorative Justice Forum für die Verbreitung der Restaurativen Justiz ein. (©Roland Tännler)
Durch einen Schicksalsschlag lernte Mirjam Neis die Arbeit von Prison Fellowship Schweiz (PFS) kennen. Was sie heute noch damit verbindet und wieso sie sich für die sogenannte Restaurative Justiz einsetzt.
Mirjam Neis, Sie sind durch einen Schicksalsschlag auf die Arbeit von Prison Fellowship gestossen?
Ja, mein Bruder hat im Frühling 2006 unsere Grosseltern getötet. Das war natürlich heftig. Er war 21 und ich 19. Ich habe mich ziemlich bald danach entschieden, offen darüber zu reden.
Was hat Sie dazu bewogen?
Weil für mich der Mord mit Schweigen zu tun hatte. Darum ist es mir wichtig, zu zeigen, dass es besser ist, über eine innere Not zu sprechen – bevor etwas passiert. Klar, Worte haben Macht, aber man darf nicht vergessen, dass es nur Worte sind. Keine Taten. Das Sprechen darüber war und ist zudem gut für mich als Verarbeitungsprozess. Auch geht es mir darum, Menschen, die Ähnliches erlebt haben, zu unterstützen, weil man so allein damit ist. Manchmal wird man auch vom eigenen Umfeld allein gelassen und es gibt kaum Hilfen.
Was hilft Ihnen im Umgang mit der Straftat?
Verschiedenes. Unter anderem der Gedanke, dass es weitergeht. Egal was passiert ist, es ist nicht der Endpunkt. Die Geschichte geht weiter. Es ist an mir, die Geschichte weiterzuschreiben. Wenn man die Bibel aufschlägt, findet man auch dort schräge Geschichten. Als gläubiger Mensch habe ich die Hoffnung auch von Gott her. Die Hoffnung, dass Vergebung passiert. Ich sage salopp: Wenn jemand aus Scheisse Gold machen kann, dann ist es Gott.
Hat Sie jemand auf Prison Fellowship hingewiesen?
Nein. Aber etwa vier Jahre nach der Straftat merkte ich, dass ich mich engagieren möchte. Etwas Positives damit anfangen. Ich wusste noch nicht genau, wie und wo, also habe ich gegoogelt, die PFS gefunden und mich dort gemeldet.
Und?
Ich traf auf Menschen, die Ähnliches erlebt haben. Ich habe Angehörige von Straftätern begleitet, ich konnte zuhören oder auch erzählen. Wir verstanden uns gegenseitig. Mittlerweile bin ich nur noch Mitglied bei der PFS und arbeite nun im Vorstand des Swiss Restorative Justice Forum (SRJF) mit.
Das ist?
Dieser Verein setzt sich für die Verbreitung der Restaurativen Justiz ein. Dies ist auch ein Anliegen von PFS. Claudia Christen, im Vorstand von PFS und zugleich Präsidentin des SRJF, hat mich vor ein paar Jahren angefragt, ob ich bei einem Pilotprojekt des SRJF mitmachen wolle. Dabei treffen sich Täter und Angehörige ähnlicher Straftaten, die von den anwesenden Tätern begangen worden sind. Ein sogenannt indirektes Setting. Ich habe daran teilgenommen und war so begeistert, dass ich wollte, dass auch andere von solchen Kursen profitieren können. So bin ich in den Vorstand gekommen. Ich vertrete die Interessen der betroffenen Personen und kann auch mal aus meiner eigenen Erfahrung sagen, wie sich etwas für mich anfühlt.
Zum Beispiel?
Bei einem Flyer für einen Gruppenkurs mit einem indirekten Täter-Opfer-Setting ging es um das Wording. Zuerst stand «um Beziehungen wieder herzustellen». Ich habe darauf hingewiesen, dass dies ein hochgegriffenes Ziel sei und dass es Menschen gibt, die dies gar nicht oder noch nicht wollen. So sind wir auf den neutraleren Begriff «Dialog» ausgewichen. Es ist wichtig, dass diese Kurse ohne Druck stattfinden. Jeder darf und niemand muss, das Ziel ist nicht vorgegeben. Jeder ist freiwillig dabei.
Wie war das mit der Beziehung zu Ihrem Bruder?
Kurz nach der Straftat ging ich ihn besuchen. Später habe ich es nicht mehr geschafft. Ich stellte mir zwei Fragen: Verdient er es? Bringt es mir etwas? Da kam ich zweimal zu einem Nein – bis ich ein besonderes Erlebnis hatte. Es war mir, wie wenn Gott zu mir sagen würde: «Wieso denkst du, dass du besser bist? Auch für deinen Bruder gibt es Gnade.» Anschliessend schaute ich mir meine Hände an und wusste, dass ich ebenfalls dazu fähig wäre.
Was war Ihre Antwort?
Also Gott, ich gehe ihn wieder besuchen, aber die Liebe für meinen Bruder musst du mir geben. Diese neue Liebe bekam ich und zugleich war es der Startpunkt zur Vergebung. Ich wollte vergeben. Trotz aller Wut und Überforderung, die auch da waren.
Und, konnten Sie Ihrem Bruder vergeben?
Vor drei Jahren rief er mich im August an, um mich zu seiner Taufe im September einzuladen. Mein erster Gedanke war, dass dies gar nicht geht – obwohl ich mich für ihn freute. Wie kann er sich taufen lassen, ohne mich je um Vergebung gebeten zu haben? Schlussendlich schenkte ich ihm einen Bibelvers, der mich und meine Eltern besonders nach der Straftat begleitet hatte, und sprach ihm im Beisein unserer Eltern meine Vergebung aus. Dies zu tun, und es vor Zeugen zu tun, war für mich eine grosse Erleichterung. Ich wusste, ich darf ihn in Gottes Arme entlassen. Es hat sich angefühlt, wie wenn ich ein Kapitel abgeschlossen hätte. Nach 13 Jahren. Klar, es gibt immer wieder Vorfälle, die an meiner Vergebung kratzen. Es ist ein lebenslanger Prozess.
Ist dies mit ein Grund, weshalb Sie sich für die Restaurative Justiz engagieren?
Ja, dieses Engagement hilft mir auch in meinem persönlichen Verarbeitungsprozess. Und, ich bin von der Restaurativen Justiz überzeugt, weil ich durch die Begleitung von Kursen miterlebe, wie sich Menschen positiv verändern. Sowohl Täter wie auch Opfer. Dies zeigen übrigens auch Studien. Dass die Restaurative Justiz alle von dem entstandenen Schaden betroffenen Parteien zu einem Dialog einlädt, um gemeinsam zu entscheiden, wie mit den Folgen des Verbrechens und den Auswirkungen auf die Zukunft umgegangen werden soll, ist für mich ein heilsamer Weg.
Autorin: Martina Seger-Bertschi
Prison Fellowship Schweiz ist ein Zweig der weltweiten Bewegung Prison Fellowship International (PFI). Sie kümmert sich um Gefangene, Ex-Gefangene, ihre Familien und die Opfer von Verbrechen und setzt sich für die Restaurative Justiz ein. Prison Fellowship Schweiz arbeitet überkonfessionell und ist Mitglied der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA.
Das Swiss Restorative Justice Forum ist ein Verein, der sich für die Verbreitung von Information, Entwicklung und Umsetzung der Restaurativen Justiz einsetzt. Zudem fördert er die Ausbildung von RJ-Praktikern.
Die Restaurative Justiz geht davon aus, dass das konventionelle Rechtssystem die Bedürfnisse der Opfer, der Täter und der Gesellschaft in der Regel nicht angemessen erfüllt. Sie fördert, dass alle Parteien sich aktiv daran beteiligen, eine heilende Form der Justiz zu schaffen.