Weiss ich, wie man sich zu verhalten hat, wenn es um Menschen mit einer Behinderung geht? Der Autor dieses Beitrags beantwortet die Frage selbst mit nein. Und doch hat Alexander Preiss aus seiner jahrelangen Erfahrung in der Begleitung von Menschen mit einer Behinderung bei den Sozialbetrieben Christuszentrum einiges zu sagen. Es beginne damit, Zurückhaltung zu lernen und anzuerkennen, nicht Bescheid zu wissen.

 

Vor Kurzem habe ich an einer Veranstaltung das Mikrofon zur Hand genommen und eine Person zurechtgewiesen, die den Begriff «geschützte Werkstätten» in einem diskreditierenden Zusammenhang verwendet hat. In der Pause ging das Schulterklopfen los. Es sei wichtig gewesen, dass ich Stellung bezogen hätte. Wildfremde Menschen bedankten sich bei mir. Weiss ich also, wie man sich zu verhalten hat, wenn es um Menschen mit einer Behinderung geht? Bin ich ein Experte für eine angemessene Kommunikation mit ihnen? Die Antwort lautet: Nein! Nur wenige Tage danach rutschte mir – mal wieder – ein «Wahnsinn» heraus, als ich die «Ordnung» im Zimmer unseres ältesten Sohnes kommentierte. Gerade mir, der ich mit Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zusammenarbeite, sollte dieses Wort nicht so unbedacht und trivialisierend über die Lippen kommen.

 

Wie können wir mit Menschen mit einer Behinderung angemessen umgehen? Mit ihnen zielführend kommunizieren? Ihnen unbefangen begegnen? Es mag überraschen: Es fängt damit an, dass wir nicht (mehr) davon ausgehen, darüber Bescheid zu wissen. Diese Zurückhaltung habe ich in der Begleitung dieser Menschen über Jahre hinweg lernen dürfen. Ich bin und bleibe da ein Lernender. Und meine Lehrpersonen, die eigentlichen Experten, das sind und bleiben diese Menschen.

 

Ein gewöhnliches Leben

Versetzen Sie sich in eine Person, die im Rollstuhl unterwegs ist und zu einem Vorstellungsgespräch begleitet wird. Worum sollte es dabei gehen? Ganz klar: um die Arbeitsstelle und das berufliche Know-how dieser Person. Wenn aber ihre Begleitperson unvermittelt Themen wie Toilettengänge anspricht, die dieses Gespräch zu dominieren beginnen, ist das alles andere als angemessen in einem solchen Setting. Für die betroffene Person kann das regelrecht entwürdigend sein!

 

Der eigentliche Kontext ist ausschlaggebend. «Ich will mit dir einen Kaffee trinken und quatschen.» Gut, dann ist gerade Kaffeetrinken und eine Unterhaltung angesagt. Geht es um die Arbeit, dann soll es um die Arbeit gehen – und dabei bleiben. Je unspektakulärer diese alltäglichen Dinge ablaufen, ganz ohne Nebengeräusche, desto besser. Mit anderen Worten: den Kontext beachten – die Kirche im Dorf lassen.

 

Menschen werden auf vermeintliche Einschränkungen reduziert, wenn eine permanente Fokussierung ihrer Beeinträchtigungen erfolgt. Das war auch beim erwähnten Vorstellungsgespräch passiert. Zuallererst auf die Interessen, Fähigkeiten und Ressourcen dieser Menschen einzugehen, sollte sich zu einer Selbstverständlichkeit entwickeln, zur Regel werden. Und der Fokus auf ihre Behinderung die Ausnahme bilden.

 

Bei alldem geht es um Normalisierung, also um das Führen eines ganz normalen, im besten Sinne gewöhnlichen Lebens. Denken Sie dabei an sich selbst: Wären Sie erfreut, wenn andere Menschen – selbst in bester Absicht – «einfach» davon ausgingen, dass Sie hilfsbedürftig seien?

 

«Ich bin nicht behindert, ich werde behindert!» Vermutlich haben Sie diesen Slogan schon einmal gehört. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel. Behinderungen «abzubauen», fängt in den Köpfen an. Dies zeigt sich durch ein verändertes Reden und Handeln, das zu Begegnungen auf Augenhöhe führt, die ihren Namen – wirklich – verdienen.

 

Sensible Wortwahl

Das führt zum zweiten Aspekt: zur Sprache. Wenn Sie zum Beispiel einem Menschen am Bahnhof begegnen, der einen Langstock mit sich führt, und nicht sicher sind, ob er Unterstützung braucht, dann ist es entscheidend, was Sie sagen und wie Sie das tun. Drei Optionen für diese Situation:

 

  • «Warten Sie. Ich helfe Ihnen!»
  • «Wie kann ich Ihnen helfen?»
  • «Brauchen Sie Hilfe?»

 

Was wäre angemessen? Die erste Aussage suggeriert, es mit einer Person zu tun zu haben, die hilfsbedürftig ist. Aber ist das überhaupt korrekt? Wer oder was sagt das? Es gibt Menschen, die Machertypen sind. Die anpacken und helfen wollen. Doch das ist hier nicht zielführend. Es kann verletzen und im schlimmsten Fall sogar als übergriffig wahrgenommen werden, einem unbekannten Menschen ungefragt unter die Arme zu greifen. Auch bei der zweiten Aussage schwingt ein gewisses Angewiesensein auf Hilfe mit, das ohne verlässliche Informationen vorausgesetzt wird. Diese so simple Frage, ob jemand möglicherweise Hilfe brauchen könnte, geht zumindest sensibler mit dieser Thematik um.

 

Wenn Sie unsicher sind, ob ein Mensch mit einer Behinderung Hilfe braucht oder nicht, sollten Sie Ihre Verunsicherung auch klar benennen. Beispielsweise so: «Ich bin mir gerade unsicher, ob ich Ihnen meine Hilfe anbieten sollte.» Bei einer solchen Aussage bleiben Sie weitestgehend bei sich selbst. Sie sind unsicher. Sie sprechen von Ihrer Hilfe und einem allfälligen Angebot Ihrerseits. Die Person, der Sie das mitteilen, ist insofern noch gar nicht direkt involviert. Und das ist auch gut so. Denn auf diese Weise signalisieren Sie, dass Sie in Ihrer Wortwahl sensibel sind, indem Sie möglichst ohne Unterstellungen zu kommunizieren versuchen.

 

Vom Meister lernen

Apropos Paradigmenwechsel: Wie kommen wir überhaupt darauf, dass ein Mensch mit Langstock behindert ist? Die Worte Jesu bieten besten Anschauungsunterricht für eine angemessene Kommunikation, auch hinsichtlich des vorliegenden Themas. «Was willst du, dass ich dir tue?»[1] Das fragte Jesus einen blinden Menschen, der um Erbarmen und Hilfe flehte. Lassen Sie sich diese Frage von Jesus für einen Moment bewusst auf der Zunge zergehen und denken Sie dabei an jenen blinden Menschen in seiner Not. Erkennen Sie, was Jesus getan hat? Beziehungsweise, was er nicht getan hat? Die erstaunliche Antwort ist: Er handelte und heilte nicht einfach ungefragt.[2]

 

Nicht ungefragt zu handeln und zu helfen – das wäre ein verheissungsvoller Anfang für die Begegnung mit einem jeden Menschen.

 

[1] Mk 10,51.

[2] Mehr zu diesem Vers und hilfreichen Worten von Jesus für die eigene Kommunikation: Preiss, Alexander: Sagʹs wie Jesus. 20 Schlüsselsätze, die Ihre Kommunikation nachhaltig verändern. Francke Verlag, 2024.

Alexander Preiss leitet den Bereich Integration und Sozialdienst der Sozialbetriebe Christuszentrum und ist Mitglied der Geschäftsleitung. Er ist auch als Coach und Autor tätig. Mit seiner Frau und den vier Kindern lebt er in Zürich.